Zentralverband des
Deutschen Handwerks
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Deutschen Handwerks
14.06.2022

"Bildungswende ist Voraussetzung für alle anderen Wenden"

ZDH-Präsident Wollseifer fordert im "Bonner General-Anzeiger" eine Bildungswende als Voraussetzung für Klima-, Verkehrs- und Energiewende.
Ausbilder mit Hörschutz steht an einer Werkzeugmaschine mit zwei Auszubildenden.

Neben Klima-, Energie- und Verkehrswende bräuchte es zunächst eine Bildungswende, so ZDH-Präsident Wollseifer zu Claudia Mahnke vom "Bonner General-Anzeiger". Diese sei Voraussetzung für das Gelingen aller anderen Transformationsaufgaben.

Wann werden Verbraucher nicht mehr so lange wie heute auf einen Handwerker warten müssen?

Bessere Zeiten sind leider erst einmal nicht absehbar. Im Gegenteil: Wenn wir nicht dafür sorgen, dass berufliche Ausbildung einen höheren Stellenwert bekommt und mehr junge Menschen einen Handwerksberuf ergreifen, wird sich die Lage in den kommenden Jahren verschlimmern.

In welchem Gewerk sind die Wartezeiten am längsten?

Alle Gewerke, die sich mit Bau und Ausbau beschäftigten, haben derzeit besonders viel zu tun. Die Betriebe, die Klimaschutz- und Energieeffizienz-Maßnahmen umsetzen, sind vor allem durch die Pläne der Bundesregierung absehbar stark ausgelastet. Wir unterstützen die Bundesregierung bei ihren Zielen zum Klimaschutz, müssen aber ganz klar sagen: So schnell wie gewünscht bekommen wir das nicht hin. Das liegt nur zum Teil an fehlenden Fachkräften, sondern vor allem auch daran, dass notwendige Produkte nicht verfügbar sind. Wer ein Dach mit Solarpanelen bestücken will, die überwiegend in Asien hergestellt werden, braucht aktuell rund sechs Monate Geduld. Wärmepumpen und vieles rund um die Wärmerückgewinnung bei der Brennwerttechnik von Heizungen ist derzeit ebenfalls sehr schlecht zu bekommen. Hier muss man mit viel Vorlauf planen.

Also zeichnet sich keine Entspannung bei Rohstoffmangel und Lieferkettenproblemen ab?

Fast alles, was wir zum Hausbau brauchen, ist momentan schwierig zu bekommen. Es fehlen auch Chips und Halbleiter beispielsweise für die Haussteuerung. Dazu kommt: Angesichts der rasant steigenden Preise ist es nahezu unmöglich, Aufträge langfristig zu kalkulieren. Die Lohnkosten können wir natürlich berechnen, aber wir wissen nicht, was das Material in drei Monaten kosten wird, wenn wir es endlich bekommen. Beim Stahl sprechen wir von Tagespreisen.

Was muss getan werden, um für mehr Nachwuchs im Handwerk zu sorgen?

Wir im Handwerk machen selbst viel, um junge Menschen für eine Ausbildung zu gewinnen: Aktionen und Projekte schon in Kita und Schule, neue Berufsausbildungswege, seit über zehn Jahren die Handwerkskampagne mit dem aktuellen Motto: „Hier stimmt was nicht“ oder etwa den vom ZDH initiierten Sommer der Berufsbildung, der jetzt zusammen mit den Partnern der Allianz für Aus- und Weiterbildung schon zum zweiten Mal veranstaltet wird. Aber zu all dem muss die Unterstützung durch die Politik kommen. Die erwarten wir. Dem Handwerk fehlen in Deutschland mindestens eine Viertelmillion Fachkräfte. Eine Fachkräfteinitiative ist notwendig.

Was ist zu tun?

Wir brauchen wieder das Bewusstsein, dass berufspraktische Arbeit etwas wert ist, und zwar genauso viel wie akademische Arbeit. Diese Wertschätzung fordere ich ein. In unserem Land kommen wir sonst nicht voran. Es hat eine Bremswirkung auf die Entwicklung unserer Gesellschaft und Wirtschaft, wenn die Balance zwischen akademischem und berufspraktischem Bereich unausgewogen ist. Wir müssen weg von der Überakademisierung. In den vergangenen Jahren haben wir so viele Akademiker ausgebildet, dass sie gar nicht alle einen festen Job finden. Das wird im Handwerk nicht passieren: Wer im Handwerk seinen Meister macht, wird immer eine Beschäftigung finden und kann überall arbeiten. Momentan ist es so, dass wir in der Bildung eine Zwei-Klassen-Gesellschaft haben. Das muss sich ändern. Die berufliche Bildung muss dringend der akademischen Ausbildung gleichgestellt werden.

Auf welche Weise könnte das geschehen?

Die Politik muss die berufliche Bildung besser wertschätzen und unterstützen. Viele unserer über 600 handwerklichen Bildungszentren bundesweit sind  zu modernisieren und müssen weiterentwickelt werden. Die Berufsschulen sind in einem erbärmlichen Zustand. Wir möchten gut ausgestattete Universitäten, aber genauso brauchen wir gut ausgestattete Berufsbildungszentren des Handwerks. Wenn eine Universität erweitert wird, zahlen Bund und Land das zu großen Teilen. Hier brauchen wir eine Finanzierung auf Augenhöhe und schnellere Prozesse.

Gefordert wird, die Zuwanderung zu stärken. Ist das nicht ein Weg, um die Fachkräftelücke zu schließen?

Wir brauchen Fachkräfte aus Drittländern. Über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz kommen schon qualifizierte junge Menschen zu uns, aber es sind nicht genug. Es gibt Flaschenhälse in den deutschen Botschaften im Ausland. Dort häufen sich die Visaanträge, deren Bearbeitung oft zu lange dauert. Das schreckt Interessenten ab, die dann lieber nach Kanada oder Australien gehen, obwohl wir wirklich ein attraktiver Arbeitsmarkt sind. Wir brauchen die Unterstützung der Politik auch, was die Fachkräfteakquise vor Ort betrifft. Das könnte auch über die Goethe-Institute geschehen, die es ja in fast allen Ländern gibt. All das wären wichtige Mosaiksteine, allerdings werden sie nicht ausreichen, um das Fachkräfteproblem völlig zu lösen: Das müssen wir schon in Deutschland selbst tun. Wir müssen hier ausbilden. Daher sage ich: Wir brauchen nicht nur eine Klimawende, eine Energiewende und eine Verkehrswende – sondern vor allem eine Bildungswende hin zu einer Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Bildung. Die ist die Voraussetzung für alle anderen Wenden.

Müsste es mehr Azubi-Wohnheime und Mitarbeiterwohnungen geben, um Fachkräfte und Azubis zu gewinnen, die sich sonst das Wohnen in der Stadt nicht mehr leisten können?

Derzeit gibt es Kolping-Wohnen für Azubis. Das ist gut, aber zu wenig. Mein Vorschlag: Studentenwohnheime könnten auch für Auszubildende geöffnet werden. Warum sollen wir das trennen? Bildung ist Bildung. So könnten wir die Mobilität auf jeden Fall fördern. Wir müssen auch an die Azubi-Tickets denken. In NRW sind die Azubi-Tickets mit 80 Euro im Monat am teuersten. Das geht in anderen Bundesländern wesentlich günstiger. Azubis müssen außerdem Sozialabgaben auf ihre Ausbildungsvergütung zahlen, Studenten müssen das nicht. Außerdem müssen Handwerkerinnen und Handwerker, die ihren Meister machen, immer noch einige Tausend Euro selbst zahlen. Das alles zeigt die Ungleichbehandlung.

Was ist mit den Ausbildungsbetrieben?

Wir müssen die Betriebe hinsichtlich der Kosten entlasten. Eine Ausbildung kostet einen Betrieb zwischen 16.000 und 20.000 Euro jährlich. Mein Vorschlag ist, dass die Betriebe eine steuerliche Ausbildungsförderung analog zur unlängst eingeführten Forschungsförderung erhalten. Das wäre hilfreich und würde die Motivation der Betriebe zur Ausbildung erhöhen.  Zwar bleiben im Handwerk derzeit zwischen 15.000 und 20.000 Ausbildungsplätze, die unsere Betriebe anbieten, unbesetzt. Aber es ist wichtig, junge Inhaberinnen und Inhaber von Handwerksbetrieben jetzt zu motivieren, in die Ausbildung einzusteigen.

Vor 15 Jahren war in mehr als 50 Berufen die Meisterpflicht weggefallen. Sie ist 2020 für zwölf Gewerke wiedereingeführt worden - darunter sind Fliesen- und Parkettleger, Rollladentechniker und Raumausstatter. Wie entwickeln sich diese Märkte?

Es ist ein deutlicher Zugewinn an Qualität zu verzeichnen, wenn die Meisterprüfung wieder gemacht wird und Voraussetzung für die Selbstständigkeit ist. Das kommt bei der Kundschaft an. So ist die Resonanz. Und das ist auch gut so.

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