Zentralverband des
Deutschen Handwerks
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Deutschen Handwerks
07.12.2021

"Berufliche Bildung gehört verstärkt in den Fokus"

ZDH-Präsident Wollseifer spricht im "Tagesspiegel" über die Pläne der neuen Ampel-Koalition und die Bedeutung beruflicher Bildung für deren Realisierung.
Ausbilder und Auzubildende an einer Schneidemaschine.

"Die großen Ziele der Koalition sind nur mit qualifizierten Fachkräften – gerade auch aus dem Handwerk – zu erreichen. Ob das der Klimawandel ist, die Digitalisierung oder die ausreichende Versorgung mit altersadäquaten Produkten und Ausbauten für die Menschen im Alter. Mehr Anerkennung und Wertschätzung für die berufliche Bildung sind unverzichtbar, um die Fachkräftelücke zu schließen", so ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer im Interview mit Alfons Frese von "Der Tagesspiegel".

Herr Wollseifer, wie groß ist die Vorfreude auf die "Fortschrittskoalition"?

Die Verhandlungen der Ampelparteien sind sehr diszipliniert verlaufen, konnten rasch abgeschlossen werden. Wir sind froh, dass es nun eine Regierung gibt. Die Herausforderungen sind schließlich enorm, und damit meine ich nicht nur Corona. Ein Verantwortungsvakuum, wie wir es in den vergangenen Wochen erlebt haben, können wir uns nicht leisten. Als Bundeskanzler muss Olaf Scholz sofort ran.

Ihnen dürfte die Handschrift der FDP im Koalitionsvertrag gefallen.

Alles in allem ist der Vertrag sehr ambitioniert, hat sich als selbstgesteckten Anspruch die Modernisierung von Staat und Gesellschaft vorgenommen. Allerdings bleibt an vielen Stellen die Frage der Finanzierung offen, ganz besonders die Finanzierung der Sozialsysteme. Da hatte ich deutlich mehr erwartet. 

Mit zwölf Euro Mindestlohn kann das Handwerk leben?

Dass die Politik die Mindestlohnkommission und damit das bewährte sozialpartnerschaftliche Miteinander vorführt und aus tariffremden Überlegungen heraus eine neue Untergrenze festsetzt, das ist eine unhaltbare Situation. Das macht den Mindestlohn zum Spielball der Politik. Die Sozialpartner sind hierzulande für die Tariffindung und in der Mindestlohnkommission für den Mindestlohn zuständig.

Sofern überhaupt Tariflöhne gezahlt werden.

In sehr vielen Branchen des Handwerks mit seinen mehr als 130 Gewerken gibt es tarifliche Mindestlöhne, die oberhalb von zwölf Euro liegen. Die Gewerke mit einer hohen Wertschöpfung, zum Beispiel der Bau, haben kein Problem mit zwölf Euro. Aber es gibt viele andere, die sich überlegen müssen, wie sie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch bezahlen können. Der Weg zu diesen 12 Euro, die politische Festlegung, das ist vor allem das Problem.

Sie hätten gerne mehr Zeit?

Für Mitte nächsten Jahres hat die Mindestlohnkommission ja bereits eine Erhöhung auf 10,45 Euro beschlossen, das ist ja schon in Sichtweite der zwölf Euro. Die würden womöglich bis Ende 2023 sowieso erreicht. Aber der richtige Weg wäre, die tariferfahrenen Sozialpartner das festlegen zu lassen. Das wäre viel besser als eine willkürliche politische Entscheidung. 

Wegen des höheren Mindestlohns wird die Einkommensgrenze für Minijobs von 450 auf 520 Euro erhöht. Dabei wäre es doch für die Sozialkassen, die Ihnen so große Sorgen machen, eine Wohltat, wenn alle Beschäftigungsverhältnisse sozialabgabenpflichtig wären. 

Minijobs brauchen wir, um bestimmte Phasen in den Betrieben abfangen zu können. Zum Beispiel in der Hochsaison in Lebensmittelgewerken oder auf dem Bau. Nicht selten sind es Studierende oder Rentnerinnen und Rentner, die schon ein Leben lang in die Sozialkassen gezahlt haben, die sich so etwas dazuverdienen. Wichtig ist eine Altersvorsorgepflicht für Selbstständige, wie die Ampel sie jetzt ja offenbar plant. Das trägt dazu bei, die Sozialkassen zu stabilisieren.

Aber das reicht vermutlich nicht, um die Sozialabgaben in der neuen Legislatur unter 40 Prozent zu halten.

Nehmen wir die Rentenversicherung mit der doppelten Haltelinie: Der Beitragssatz soll nicht steigen und das Rentenniveau nicht fallen. Das kann auf Dauer nicht funktionieren. Perspektivisch müssen wir das Rentenalter an die Altersentwicklung koppeln. Kurzfristig jedoch müssen wir die gesamtgesellschaftlichen Aufgaben auch gesamtgesellschaftlich finanzieren. Wir verhalten uns immer noch wie zu Bismarcks Zeiten und finanzieren unser aller Sozialsystem vor allem über die Löhne.

Was ist die Alternative?

Nehmen wir den Bereich Gesundheit: Die versicherungsfremden Leistungen sollten von der Gemeinschaft der Steuerzahler in voller Höhe und nicht von den Betrieben und ihren Beschäftigten getragen werden. Dass die Ampel-Koalition jetzt angekündigt hat, den Bundeszuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung zu dynamisieren, geht hier zwar in die richtige Richtung, reicht aber nicht. Und bei Investitionen in die Krankenhäuser machen sich Bund und Länder einen schlanken Fuß, indem die Beitragszahler auch hier zur Kasse gebeten werden. Das ist nicht in Ordnung.

Sind Sie wenigstens zufrieden mit den ziemlich konkreten Plänen der Ampel für die Aus- und Weiterbildung?

Ja – einmal ausgenommen die Ausbildungsgarantie. Ein stärkerer Fokus auf die berufliche Bildung war auch unbedingt erforderlich, denn die großen Ziele der Koalition sind nur mit qualifizierten Fachkräften gerade auch im Handwerk zu erreichen. Ob das der Klimawandel ist, die Digitalisierung oder die ausreichende Versorgung mit altersadäquaten Produkten und Ausbauten für die Menschen im Alter. Mehr Anerkennung und Wertschätzung für die berufliche Bildung sind unverzichtbar, um die Fachkräftelücke zu schließen.

Und das finden Sie im Vertrag?

Jedenfalls viele Instrumente, die dazu beitragen: Exzellenzinitiative, höhere Berufsbildung, bessere Finanzierung der Berufsschulen und unserer handwerklichen Bildungsstätten, Aufstiegs-Bafög. Die Gleichstellung der beruflichen mit der akademischen Bildung – das muss das große Ziel sein. Am besten auch endlich gesetzlich festgeschrieben. Die Ausbildungsgarantie aber lehnen wir ab, die ist nicht zielführend und setzt am falschen Ende an. Denn es ist ja nicht so, dass Handel, Handwerk und Industrie nicht ausreichend Ausbildungsplätze bereitstellen. Allein im Handwerk bleiben jedes Jahr mehr als 18.000 Ausbildungsplätze unbesetzt, die unsere Betriebe gerne besetzen würden. Es fehlen Bewerberinnen und Bewerber, nicht die Plätze. Das sind die Fakten. Deshalb brauchen wir keinen weiteren Ausbildungsplatzwettbewerb mit Schulen und außerbetrieblichen Bildungsträgern. Wir sollten lieber alles daransetzen, erst einmal für alle bereits angebotenen Ausbildungsplätze junge Menschen zu gewinnen. 

Umso rätselhafter, dass nicht mehr junge Leute für eine Berufsausbildung gewonnen werden können. Oder sind die Ausbildungsbetriebe zu anspruchsvoll?

37 Prozent unserer Azubis kommen von der Hauptschule, vier Prozent haben gar keinen Abschluss, knapp 16 Prozent sind Abiturienten. Wir brauchen auch Abiturienten, weil mit der technologischen und digitalen Entwicklung die Ansprüche in vielen Gewerken steigen. Und weil allein in den nächsten fünf Jahren für rund 125.000 Betriebe neue Nachfolgerinnen und Nachfolger gefunden werden müssen. Die Mischung macht’s also. Ein großes Problem ist jedoch, dass Handwerk vielfach an Gymnasien bei der Berufsorientierung nicht stattfindet.

Warum nicht?

Da überwiegt die Vorstellung, alle müssten Akademiker werden. Dabei spricht die Erfahrung dagegen. Rund 55 Prozent der Schulabgängerinnen und Schulabgänger entscheiden sich inzwischen für ein Studium, aber jedes Jahr brechen viele Tausende junge Menschen ihr Studium ab. Bei Vielen wäre das vermeidbar, wenn sie gleich eine Berufsausbildung wählen. Bleibt es bei dem Akademisierungstrend, haben viele Handwerksbetriebe keine Zukunft.

Also müssen Sie und Ihre Kollegen noch viel mehr aufklären über die großartigen Handwerksberufe.

Wir machen das schon, wo immer es möglich ist: Wir gehen bereits in die Kitas. Und wir entwickeln neue Ausbildungswege – Stichworte sind hier BerufsAbitur oder Höhere Berufsbildung – und auch ganz neue Berufe. Zum Beispiel den Elektroniker für Gebäudesystemintegration, der ein komplettes Gebäude steuern kann und nicht mehr viel mit einem klassischen Elektriker oder Elektroniker gemeinsam hat. Kurzum: Wir brauchen Abiturienten, Real- und Hauptschüler für die ganze Breite handwerklicher Berufe.

Wie viele Geflüchtete haben in den vergangenen Jahren im Handwerk Arbeit gefunden?

Rund drei Jahre, bis zum ersten Coronajahr, haben Geflüchtete zu den steigenden Ausbildungszahlen beigetragen. Zurzeit haben wir im Handwerk rund 25 000 Geflüchtete in Ausbildung. Und viele Betriebe berichten mir, dass sie sie gerne übernehmen, wenn sie die Prüfung bestanden haben. Jede zweite Ausbildung eines Geflüchteten hat im Handwerk stattgefunden, das wegen seiner oft familiären Strukturen für die Integration junger Menschen prädestiniert ist.  Das war und ist schon eine Erfolgsstory.

In diesem Jahr bleibt das Handwerk aber noch hinter dem Ausbildungsniveau von 2019 zurück. 

Immerhin haben wir gegenüber 2020 rund zwei Prozent bei neuen Ausbildungsverträgen aufgeholt, liegen damit aber leider noch knapp sechs Prozent unter 2019. Die Kontaktbeschränkungen haben viele Betriebe hart getroffen. Jobmessen, Betriebsführungen, Praktika zum gegenseitigen persönlichen Kennenlernen gibt es ja kaum in Coronazeiten.

Wie funktioniert aktuell die Umsetzung der 3G-Regel?

Bei wechselnden Einsatzorten – zum Beispiel im Gebäudereinigerhandwerk, am Bau oder im Ausbau, ist das nicht so einfach. Da ist rechtlich noch nicht ganz klar, wie das mit den Kontrollen laufen soll, wie man etwa mit den täglichen Testergebnissen umgehen und sie dokumentieren soll. Dafür muss man jetzt mal bei der nötigen Rechtsverordnung ordentlich auf die Tube drücken.

Warum haben Sie Ihre Meinung geändert und befürworten inzwischen eine Impfpflicht?

Die Situation hat sich geändert: Drastisch wird uns das doch vor Augen geführt, wenn Intensivpatienten inzwischen von einem Bundesland in ein anderes geflogen werden, weil die Überforderung von Krankenhäusern droht. Jetzt müssen sich alle solidarisch zeigen, weshalb ich mich einer allgemeinen Impfpflicht nicht mehr verwehre. Impfschutz ist auch Schutz unserer Betriebe, weil wir nur übers Impfen wieder zu uneingeschränktem Arbeiten und Ausbilden kommen werden. 

Wie wird das Handwerk im nächsten Frühjahr die vierte Welle überstanden haben?

Ganz unterschiedlich. Auf dem Bau läuft es trotz Lieferproblemen und höheren Preisen immer noch rund, der Auftragseingang ist gut. Aber um nur zwei stark Corona-betroffene Gewerke zu nennen: Der Messebau, die Feinwerkmechaniker und die körperlichen Dienstleistungen haben massiv gelitten. Vor zwei, drei Wochen haben wir für das Gesamthandwerk noch ein Plus für dieses Jahr von zwei Prozent erwartet. Inzwischen bin ich skeptischer und rechne mit maximal zwei Prozent. 2022 könnte es einen deutlichen Aufschwung geben – wenn wir Corona in den Griff kriegen. Mittel- und langfristig aber belastet uns der Fachkräftemangel viel stärker als Corona.

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