Zuverlässigkeit einer Schätzung nach amtlicher Richtsatzsammlung
Hintergrund
Nach § 162 Abs. 2 Satz 2 AO hat die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann, wenn die Buchführung oder die Aufzeichnungen der Besteuerung nicht nach § 158 Abs. 2 AO (im Entscheidungsfall § 158 AO a.F.) zugrunde gelegt werden oder wenn tatsächliche Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der vom Steuerpflichtigen gemachten Angaben zu steuerpflichtigen Einnahmen oder Betriebsvermögensmehrungen bestehen. Gemäß § 162 Abs. 1 Satz 2 AO sind bei der Schätzung alle Umstände zu berücksichtigen, die für sie von Bedeutung sind. Die daraus resultierenden Schätzungsergebnisse müssen schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein. Unter diesen Voraussetzungen ist die Finanzverwaltung in der Wahl ihrer Schätzungsmethoden grundsätzlich frei. Eingeschränkt wird diese Freiheit allerdings durch die allgemein geltenden gesetzlichen Grenzen der Ermessensausübung.
Dem Urteil vom 18. Juni 2025 (Az. X R 19/21) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger betrieb in den Streitjahren 2013 und 2014 eine Diskothek. Eine Außenprüfung beanstandete seine Kassen- und Buchführung als formell ordnungswidrig. Die Diskothek war mit bis zu fünf offenen Ladenkassen betrieben worden, deren Tagesgesamteinnahmen auf Zetteln erfasst und an die Buchhaltung übergeben worden waren; Kasseneinzelaufzeichnungen hatte der Kläger nicht vorlegen können. Der Prüfer verprobte die Getränkeumsätze und kam zu dem Schluss, dass die Betriebseinnahmen und die Umsätze nicht vollständig erklärt worden waren und nahm Hinzuschätzungen nicht nur bei den Getränkeumsätzen, sondern auch bei den Eintritts- und Garderobenumsätzen vor. Gegen die entsprechend geänderten Bescheide über Einkommensteuer und Umsatzsteuer sowie über die Gewerbesteuermessbeträge für 2013 und 2014 legte der Kläger Einsprüche ein, die jedoch erfolglos blieben.
Das Finanzgericht (FG) folgte dem Finanzamt (FA) nur in Teilen, als dass es ebenfalls von einer Schätzungsbefugnis dem Grunde nach ausging. Es war aufgrund einer Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kassenzettel nicht den jeweiligen tatsächlichen Kassenbestand widerspiegelten. Allerdings beanstandete es sowohl die vom FA angewandte Schätzungsmethode als auch das Schätzungsergebnis. Das FG schätzte die Getränkeumsätze nach Maßgabe eines äußeren Betriebsvergleichs in Ausübung seiner eigenen Schätzungsbefugnis. Dabei legte es seiner Schätzung die vom Bundesministerium der Finanzen (BMF) veröffentlichten Richtsatzsammlungen 2013 und 2014 sowie einen internen Bericht des Finanzamts Mönchengladbach-Mitte vom 23.05.2017 über Betriebsprüfungen bei Diskotheken zugrunde. Die hinzugeschätzten Erlöse bei den Eintrittsgeldern und Garderobendienstleistungen verwarf das FG mit der Begründung, dass die Schätzungsparameter des FA unplausibel und willkürlich seien. Daraufhin erließ das FA entsprechend geänderte Bescheide. Es folgten weitere Rechtsgänge. Zum Ende hat das FG bei der Schätzung des Rohgewinnaufschlagsatzes „nur“ auf die Richtsatzsammlung des BMF zurückgegriffen. Dagegen wendete sich der Kläger mit seiner Revision und trug insbesondere vor, dass die Richtsätze des BMF keine zuverlässige Grundlage für Schätzungen böten.
Der erkennende Senat des BFH gab der Revision (Urteil vom 18.6.2025, Az. X R 19/21) statt. Zwar habe das FG zutreffend eine Schätzungsbefugnis dem Grunde nach bejaht. Jedoch sei die vom FG vorgenommene Hinzuschätzung in Form eines äußeren Betriebsvergleichs auf der Grundlage der amtlichen Richtsatzsammlung des BMF nicht nachvollziehbar begründet worden und könne daher nicht auf ihre Angemessenheit hin überprüft werden. Daher verwies der BFH die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.
Begründung
Werden in einem Betrieb vorwiegend Bargeschäfte getätigt, können Mängel der Kassenführung der gesamten Buchführung die Ordnungsmäßigkeit nehmen, mit der Folge, dass FA und FG dem Grunde nach zur Schätzung befugt sind.
Bei dem Vorliegen einer Schätzungsbefugnis sind das FA und das FG in der Wahl ihrer Schätzungsbefugnis grundsätzlich frei. Jedoch ist diese Freiheit bei mehreren in Betracht kommenden Schätzungsmethoden nach den allgemeinen für die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens (§ 5 AO) geltenden Grundsätzen eingeschränkt.
Im Rahmen der Ermessensausübung sind tendenziell ungenauere Schätzungsmethoden gegenüber genaueren Schätzungsmethoden nachrangig. In der Regel ist der innere Betriebsvergleich im Verhältnis zum äußeren Betriebsvergleich als die zuverlässigere Schätzungsmethode anzusehen. FA und FG müssen das Ergebnis ihrer Schätzung nachvollziehbar begründen. Eine fehlende oder nicht nachvollziehbare Begründung kann zu einem sachlich-rechtlichen Mangel des Urteils führen, der auch ohne besondere Rüge vom Revisionsgericht beanstandet werden kann.
Die Finanzverwaltung darf zur Ermittlung von Vergleichsdaten Datenbanken aufbauen und verwenden, auch wenn diese nicht allgemein zugänglich sind, und es ist zulässig, Vergleichsdaten mit Hilfe von Datenbanken zu ermitteln.
Allerdings müssen die im Einzelfall zu verwendende Datenbank Mindestanforderungen an die Qualität der Datenerfassung erfüllen. Die Gerichte können deshalb gehalten sein, Rückfragen über die Zusammenstellung und Ableitung der anonymisierten Vergleichsdaten zu stellen. Können solche Fragen aus Gründen des Steuergeheimnisses oder aus anderen Gründen nicht beantwortet werden, geht dies zu Lasten des Beweiswertes der Vergleichsdaten.
Es bestehen gegenwärtig erhebliche Zweifel, ob die amtliche Richtsatzsammlung in ihrer bisherigen Form eine geeignete Grundlage für einen äußeren Betriebsvergleich darstellt. Der X. Senat begründet dies zum einen mit der fehlenden statistischen Repräsentativität der zur Ermittlung der Richtsätze herangezogenen Daten und zum anderen dem kategorischen Ausschluss bestimmter Gruppen von Betrieben bei der Ermittlung der Richtsatzwerte.
Hinweis
Der BFH hat mit diesem Urteil die Anwendung der amtlichen Richtsatzsammlung nicht komplett verworfen. Am Ende der Urteilsgründe (Rz. 139) führt er jedoch aus, dass für die Richtsatzschätzung nach pflichtgemäßem Ermessen im Grunde nur noch solche Betriebe bleiben, bei denen die vorhandenen Aufzeichnungen derart lückenhaft oder inhaltlich zweifelhaft sind, dass sie bei zumutbarem Aufwand noch als Grundlage für einen – auch mit Restunsicherheiten behafteten – inneren Betriebsvergleich ausscheiden.