Zentralverband des
Deutschen Handwerks
17.10.2025

Handwerk ist Zukunftskraft für Wirtschaft und Gesellschaft

"Damit das Handwerk ein wirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Stabilitätsfaktor bleibt, braucht es eine verlässliche, mittelstandsorientierte Politik", sagt ZDH-Präsident Jörg Dittrich zu Sabine Schritt vom Magazin Human Resource Manager.
Jörg Dittrich

Das Handwerk spricht gern von sich als Wirtschafts- und Gesellschaftsmacht. Was meinen Sie damit?

Ein Magazin hat uns einmal den “unterschätzten Riesen” genannt. Das trifft es ziemlich gut. Denn allein der Umsatz des Gesamthandwerks in Deutschland lag 2024 bei beeindruckenden 771 Milliarden Euro ohne Umsatzsteuer. Zum Vergleich: Die drei großen deutschen Autobauer VW, Mercedes Benz und BMW haben im selben Jahr 2024 rund 613 Milliarden Euro Umsatz gemacht. Wirtschaftlich ist das Handwerk also eine echte Größe, doch vielen ist das in dieser Dimension gar nicht bewusst. Aber es geht eben nicht nur um wirtschaftliche Kennzahlen.

Inwiefern?

Die Bedeutung des Handwerks reicht weit über diese wirtschaftlichen Zahlen hinaus: Das Handwerk ist vor allem auch eine Gesellschaftsmacht. Aktuell befinden sich 342.000 überwiegend junge Menschen in einer handwerklichen Ausbildung. Das ist aktive Fachkräftesicherung des Handwerks für morgen. Und wenn man bedenkt, dass im Handwerk 5,6 Millionen Menschen beschäftigt sind, die – konservativ gerechnet – jeweils zwei bis drei enge Angehörige haben, dann sprechen wir von etwa 17 bis 18 Millionen Menschen, die direkt mit dem Handwerk verbunden sind. Dass eine so große gesellschaftliche Gruppe Einfluss auf die Stimmung im Land hat, liegt auf der Hand.

Könnten Sie erläutern, in welcher Weise das Handwerk das gesellschaftliche und soziale Miteinander prägt?

Eine logische Schlussfolgerung der Bedeutung des Handwerks: Geht es dem Handwerk gut, geht es dem Land gut. Und das zeigt sich nicht nur in der Wirtschaftskraft oder Ausbildungsleistung. Sondern die breite Verwurzelung des Handwerks ist wie ein Seismograf für gesellschaftliche Strömungen. Handwerk bedeutet auch gelebtes Engagement. Ob im Sportverein, in der Kirchengemeinde, bei der Freiwilligen Feuerwehr oder in der handwerklichen Selbstverwaltung: Betriebe und Beschäftigte bringen sich vielerorts aktiv ein. Das Handwerk ist mitten im Leben, tief in den Regionen verwurzelt und ein unverzichtbarer Bestandteil des sozialen Zusammenhalts und der wirtschaftlichen Stärke unseres Landes.

Wie geht es dem deutschen Handwerk im Jahr 2025?

Das Handwerk steht nach wie auf einer soliden Basis. Aber natürlich spüren auch Handwerksbetriebe die gesamtwirtschaftliche Lage, ist eine eher verhaltene Investitionsbereitschaft zu erkennen. Gerade der Baubereich leidet weiter unter hohen Baukosten und Zurückhaltung beim Neubau. 

Die Insolvenzzahlen sind auch im Handwerk zuletzt gestiegen. Trifft die schwache Konjunktur das Handwerk stärker als gedacht?

Die Entwicklung der Insolvenzzahlen lässt sich insgesamt als eine Rückkehr zum langfristigen Trend vor der Corona-Pandemie interpretieren. Während der Pandemie hatten umfangreiche staatliche Unterstützungsmaßnahmen und Sonderzahlungen zu einem teilweise deutlichen Rückgang der Insolvenzen geführt. Allerdings stellen aktuelle Entwicklungen wie gestiegene Energie-, Material- und Beschaffungskosten sowie hohe Lohnabschlüsse eine besondere Belastung für viele Betriebe dar, insbesondere in einer konjunkturellen Schwächephase wie der derzeitigen. Für eine fundierte Einordnung empfiehlt sich zudem der Blick auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung: Im Jahr 2024 ist die Zahl der Insolvenzen in der Gesamtwirtschaft stärker gestiegen als im Handwerk.

Wie bewerten Sie die aktuelle Wirtschaftspolitik?

Insgesamt fehlt eine klare Handschrift zugunsten des Mittelstands. Entscheidungen wirken zu oft auf industrielle Großstrukturen zugeschnitten, während praxisnahe, schnell wirksame Maßnahmen für das Handwerk ausbleiben. Was wir brauchen, ist eine echte Wachstumspolitik, die den Mittelstand als Fundament der deutschen Wirtschaft stärkt. Dazu gehören eine deutliche Reduzierung der Bürokratie, die gesetzliche Verankerung der Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung sowie ein entschlossenes Handeln bei der Reform der Sozialsysteme. Es geht um Zukunftsfestigkeit, Generationengerechtigkeit und die langfristige Finanzierbarkeit. Hier dürfen wir keine Zeit verlieren.

Wo sehen Sie die größten Versäumnisse der neuen Bundesregierung?

Zentrale Zusagen wie die Senkung der Stromsteuer für ALLE wurden nicht eingelöst. Auch die Ankündigung einer Kommission zur Zukunft der Sozialsysteme verliert an Glaubwürdigkeit, wenn gleichzeitig Rentenbeschlüsse gefasst werden, die generationengerechte Reformen blockieren und Betriebe wie Beschäftigte zusätzlich belasten. Das schwächt das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Politik und sorgt für Frust. Das Handwerk braucht von der Politik vor allem Verlässlichkeit und Planbarkeit. Was im Koalitionsvertrag an Entlastung versprochen wird, klingt gut. Doch in den Betrieben ist davon bislang zu wenig angekommen. 

Der ZDH vertritt das Handwerk auch in Brüssel. Welche Themen stehen dort im Vordergrund?

Die Europapolitik ist für das deutsche Handwerk von großer Bedeutung, da Handwerksbetriebe in den europäischen Binnenmarkt eingebunden und von den Entscheidungen der Europäischen Union direkt betroffen sind. Das reicht von Digitalisierungsgesetzen wie dem AI-Act, über die EU-Verordnung über entwaldungsfreie Lieferketten bis zum europäischen Kreislaufwirtschaftsgesetz. Wir brauchen europaweit praktikable Vorgaben, die den Alltag der Betriebe berücksichtigen. Außerdem geht es um faire Wettbewerbsbedingungen. Wenn europäische Normen entwickelt werden, muss das Handwerk einbezogen sein. Sonst laufen wir Gefahr, dass am Ende Regeln entstehen, die nur für Großkonzerne machbar sind.

Viele Menschen erleben Wartezeiten bei Handwerksdienstleistungen, weil Betriebe keine Kapazitäten haben. Wie stellt sich die Personalsituation im Handwerk dar?

Der Bedarf wächst und es braucht mehr Menschen, die den beruflichen Weg ins Handwerk einschlagen. Jedes Jahr bleiben im Durchschnitt rund 20.000 Ausbildungsstellen, die die Betriebe anbieten, unbesetzt. In den kommenden fünf Jahren stehen etwa 150.000 Betriebsübergaben an und geschätzt sind derzeit rund 200.000 Stellen im Handwerk unbesetzt. Wir haben ein starkes duales Ausbildungssystem, aber es braucht mehr Anerkennung und auch tatsächliche Förderung. Jahrzehntelang wurde jungen Leuten gesagt: Nur mit Studium wirst du erfolgreich. Das stimmt nicht. Die duale Ausbildung eröffnet enorme Karrierewege. Was wir brauchen, ist die gesetzlich verankerte Gleichwertigkeit beider Bildungswege. Ob jemand studiert oder eine Ausbildung macht: Beide Wege müssen als gleichwertig angesehen und behandelt werden.

Das klingt nach einem grundsätzlich anderen bildungspolitischen Verständnis.

Ja, wir brauchen insbesondere auch eine Bildungswende, wenn all die anderen Wenden bei Energie, Klimaschutz und Mobilität gelingen sollen. Denn die letztgenannten Wenden werden nur Realität werden können, wenn genügend qualifizierte Handwerkerinnen und Handwerker zur Verfügung stehen. Die aber gewinnt man vor allem über die berufliche Ausbildung und Bildung. Daher ist ein Umdenken so wichtig. Wir müssen Eltern, Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern klar machen: Handwerk ist Zukunftsgestalter. Handwerk ist Hightech, Kreativität und Unternehmertum zugleich. Wer eine Ausbildung im Handwerk startet, hat ausgezeichnete Karrierechancen. In kaum einer anderen Branche kann man so früh sein eigener Chef oder seine eigene Chefin werden. Der Meistertitel ist ein europäisches Erfolgsmodell. Wer den macht, hat eine exzellente Qualifikation und kann sich weltweit behaupten.

Welche Rolle spielen dabei Förderungen wie das Aufstiegs-BAföG?

Eine ganz zentrale Rolle. Sich weiterbilden zu wollen, darf nicht am Geld scheitern. Das Aufstiegs-BAföG ist das wichtigste Instrument, um die Meisterausbildung zu fördern. Und es ist uns ein Anliegen, dass es weiter ausgebaut wird. Denn Qualifizierung ist der Schlüssel, damit das Handwerk auf Dauer stark bleibt. Der Meistertitel steht für Verantwortung, für Führungsqualität und für unternehmerisches Handeln. Wer Meister wird, kann Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausbilden, sie führen und selbstständig einen Betrieb leiten. Gerade bei den tausenden Betriebsübergaben, die in den kommenden Jahren anstehen, brauchen wir junge Menschen, die diese Verantwortung tragen können und wollen.

Sie selbst sind Dachdeckermeister. Viele denken dabei an harte körperliche Arbeit. Wie attraktiv ist dieser Beruf für junge Leute und welche Erfahrungen machen Sie bei der Nachwuchsgewinnung?

Natürlich ist das ein teils körperlich anstrengender Beruf. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Wer heute als Dachdeckerin oder Dachdecker arbeitet, hat auch Lasermessgeräte in der Hand, nutzt Drohnen oder arbeitet mit modernsten Dämmstoffen. Wir haben bei uns im Betrieb sogar einen Roboter mitentwickelt, der auf Flachdächern Material anfahren und Dämmstoffplatten nach Planung verlegen kann. Viele Betriebe arbeiten mit Zuschneidemaschinen oder Exoskeletten. Aber was immer noch gilt wie vor über 100 Jahren, als mein Urgroßvater Paul unseren Betrieb gegründet hat: Als Handwerker sieht man sofort das Ergebnis seiner Arbeit. Dieses Gefühl von Stolz und Sinn ist durch nichts zu ersetzen. Junge Menschen schätzen genau das. Wir haben bei uns im Betrieb keine Probleme, Auszubildende zu finden.

Was können Betriebe selbst tun, um attraktiver zu werden?

Gute Kommunikation und Ansprache, moderne Arbeitszeitmodelle, ein respektvoller Umgang: Das sind Dinge, die junge Leute heute erwarten können. Die Arbeitskultur im Handwerk ist direkt, menschlich, häufig sehr familiär und verantwortungsvoll. Wer in einem Handwerksbetrieb arbeitet, kennt den Chef fast immer persönlich. Wir sprechen nicht zuletzt deswegen auch von der Handwerksfamilie. Es gibt keine anonyme Großstruktur. Jeder wird gebraucht und das spürt auch jede und jeder im Betrieb jeden Tag.

Das Handwerk gilt oft als traditionsbewusst, integriert aber auch neue Technologien wie 3D-Druck oder digitale Werkzeuge. Wie gelingt die Balance zwischen handwerklicher Identität und digitalem Fortschritt?

Handwerk hat schon immer bedeutet: Können und handwerkliche Fähigkeiten, Erfahrung und Präzision. Diese Identität bleibt, auch wenn neue Technologien hinzukommen. Handwerksbetriebe sehen sich als Gestalter. Viele arbeiten längst mit CAD-Programmen, Drohnen, Robotik oder 3D-Druck. Nur ein Beispiel aus der Zahntechnik: Hier hat der 3D-Druck eine ganze Wertschöpfungskette verändert. Zahnersatz und Schienen können damit schneller, materialschonender und präziser angefertigt werden. Gleichzeitig bleibt die handwerkliche Expertise entscheidend. Nur wer beides verbindet, kann Innovation mit Qualität zusammenbringen.

In welchen organisatorischen und kulturellen Punkten könnte ein Handwerksbetrieb Vorbild sein für ein Industrie- oder Dienstleistungsunternehmen?

Handwerksbetriebe arbeiten in der Regel sehr agil. Die Hierarchien sind flach, Entscheidungen können entsprechend ohne längere Abstimmungen auf verschiedensten Hierarchieebenen getroffen werden. Der direkte Draht zwischen Geschäftsführung und Beschäftigten sorgt für Transparenz und einen guten Wissenstransfer. Außerdem erleben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Handwerksbetrieben sehr unmittelbar, welchen Beitrag zum Betriebserfolg sie leisten. Diese Wertschätzung und Sinnorientierung, die es in großen Konzernen oft so nicht gibt, ist im Handwerk gelebte Realität.

Und was können beide voneinander lernen?

Von der Industrie können wir uns abschauen, wie Prozesse standardisiert und effizient organisiert werden können. Umgekehrt kann die Industrie von der Menschlichkeit und Kundennähe im Handwerk profitieren. Wer als Handwerkerin oder Handwerker etwas nicht ordentlich macht, bekommt das Feedback sofort. Das schärft die Qualität und den Servicegedanken. Ich glaube, andere Branchen könnten viel davon übernehmen: diese Haltung, Verantwortung für das eigene Produkt oder die eigene Dienstleistung zu übernehmen und wirklich zuzuhören. Denn Kundennähe heißt nicht nur verkaufen, sondern Beziehungen aufbauen.

Was begeistert Sie persönlich am Handwerk – auch in Ihrer Rolle als ZDH-Präsident?

Der Beruf fasziniert mich bis heute. Wir Handwerker wissen, dass wir täglich etwas Produktives schaffen. Die Reaktion auf unser Tun erhalten wir unmittelbar, wie zum Beispiel die Freude der Kundinnen und Kunden über die neuen Solaranlagen auf dem Dach. Das macht zufrieden. Zusätzlich erlebe ich als Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks jeden Tag, wie innovativ, wandlungsfähig und engagiert die Betriebe, Handwerkerinnen und Handwerker sind. All das zeigt: Das Handwerk ist unglaublich vielfältig und ein Berufsfeld voller Abwechslung und Perspektiven.

Wie muss sich das Handwerk der Zukunft aufstellen und was wünschen Sie sich für die Branche?

Das Handwerk der Zukunft wird noch stärker digital arbeiten und neue Technologien nutzen, aber es wird durch KI nicht zu ersetzen sein. Nur mit dem Handwerk werden sich alle nötigen Modernisierungen in unserem Land umsetzen lassen, weshalb sich im Handwerk sehr zukunftssichere und zugleich sinnstiftende Tätigkeiten finden. Daher ermutige ich junge Menschen auch, ins Handwerk zu kommen und hier ihre berufliche Zukunft aufzubauen. Damit das Handwerk aber all seine Potenziale auch wirklich ausschöpfen kann, braucht es eine Politik, die über Lippenbekenntnisse hinaus die Betriebe und ihre Beschäftigten entlastet und unterstützt. Mein Wunsch ist, dass das Handwerk als das wertgeschätzt wird, was es ist: eine der tragenden Säulen unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft. Und eine Branche, die Sicherheit, Sinn und Perspektive bietet.

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