Deutschland braucht einen politischen Befreiungsschlag
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Herr Dittrich, Sie haben den Start der neuen Regierung mit viel Zuversicht begrüßt. Was ist davon noch übrig?
Handwerkspräsident kann man nicht sein, wenn man selbst mit einer defätistischen oder zynischen Grundhaltung unterwegs ist. Allerdings lässt sich nicht bestreiten, dass die Stimmung in der Wirtschaft und auch im Handwerk schlecht ist. Und das geht auch an mir nicht spurlos vorbei. Doch gemessen an dem, was die Ampel am Ende auf den Weg gebracht hatte, gibt es jetzt ja schon durchaus Substanzielles: Die verbesserte Pendlerpauschale, erweiterte Abschreibungsmöglichkeiten, Baubeschleunigung, Bürokratieentlastung sind ein Anfang. Doch es braucht noch deutlich mehr und mit mehr Tempo.
Pendlerpauschale, Mütterrente und Mehrwertsteuersenkung werden von Ökonomen als Konsumausgaben, die nichts zur Wettbewerbsfähigkeit beitragen, strikt abgelehnt.
Die höhere Pendlerpauschale ist für mich vor allem ein Signal an die Leistungsträger, die Arbeitswege in Kauf nehmen, um täglich ihren Job zu machen und damit dazu beitragen, das Land am Laufen zu halten. Die Mütterrente ist komplexer: als Würdigung der Leistung von Müttern nachvollziehbar, aber mit zusätzlichen Belastungen für die Jüngeren verbunden. Das ist ein Zielkonflikt, der politisch geklärt werden muss.
Ein Aufschwung ist nirgendwo in Sicht, im Handwerk ist die Lage noch schlechter als vor einem Jahr.
Nehmen wir die höheren Abschreibungsmöglichkeiten aus dem Investitionsbooster, die seit Juli gelten. Die hätten doch eigentlich Investitionen auslösen sollen und die Auftragsbücher sich füllen müssen. Das ist jedoch nicht passiert. Für mich ein Hinweis, dass die Maßnahmen als Motivation für Investitionen offenbar nicht ausreichen, und es für die Investitionszurückhaltung noch andere Gründe gibt. Geld ist nach wie vor da. Ein Beispiel für nicht zielführende Maßnahmen: Die Stromsteuersenkung.
Warum?
Zum einen, weil die Stromsteuersenkung nicht - wie zugesagt - für alle gilt, und damit Planungssicherheit und Verlässlichkeit untergräbt. Zum anderen, weil mit dem Antragsverfahren auf Stromsteuerentlastung jetzt ein hoher zusätzlicher Bürokratieaufwand verbunden ist, den der Gesetzgeber hätte vermeiden können. Ich habe gerade einen Bäckermeister mit 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besucht. Der bekommt die Stromsteuerentlastung nur für seine Produktion, nicht für seine Verkaufsfilialen. Er hat mir berichtet, dass er dafür beim Hauptzollamt eine Nummer beantragen muss, zudem die Elster-Nummer angeben, alles selbst berechnen und umfangreiche Formulare ausfüllen muss. Der Aufwand ist unverhältnismäßig und alles so kompliziert, dass er überlegt, den Erstattungsantrag im nächsten Jahr nicht mehr zu stellen.
Wer profitieren will, muss sich legitimieren.
Keine Frage. Doch viele Vorgaben sind nur schwer nachvollziehbar. Ein Beispiel sind Verpackungen: Für das Recycling eines Einwegbechers beim Kaffee to-go ist der Lieferant verantwortlich, für den Deckel wiederum der Bäcker. Und für die Verpackungstüte muss der Bäcker genau nachweisen, wie viel Gewicht sie enthält, denn erst alles über 500 Gramm gilt nicht mehr als To-go-Tüte. Mit solchen Regelungen müssen wir uns im Handwerk täglich herumschlagen.
Auch die Dachdecker?
Ja sicher. Bei uns war vor einem Jahr der Zoll zur Schwarzarbeitskontrolle. Wir haben keine geringfügig Beschäftigten, keine ausländischen Werkvertragsarbeitnehmer und zahlen selbstverständlich mehr als den zu kontrollierenden Mindestlohn. Und trotzdem haben wir eine Auseinandersetzung, weil nach Meinung des Zolls die Pausenzeiten vor drei Jahren nicht ausreichend genug dokumentiert wurden. Das zeigt, wie stark der Fokus auf Kontrolle statt auf Vertrauen gelegt wird.
Und nun?
Ich weiß nicht, wann die Leute vor drei Jahren Pause gemacht haben. Wir haben eine elektronische Zeiterfassung, aber auf den Baustellen gibt es nun mal keine Stechuhren. Die Mitarbeiter schreiben am Freitag ihre Arbeitszeit gebündelt für die Woche auf. Das funktioniert seit Jahren reibungslos. Trotzdem steht ein Verfahren im Raum. Da stimmt doch die Verhältnismäßigkeit nicht mehr.
Das Thema Bürokratie ist doch erkannt, die Regierung hat entsprechende Beschlüsse gefasst und die EU auch.
Wir erkennen die gute Absicht an. Ein Anfang ist gemacht, doch er reicht bei Weitem nicht aus. Mit den jetzigen Beschlüssen sollen die Betriebe um 100 Millionen entlastet werden, das entspricht im Schnitt etwa 30 Euro pro Betrieb. Weitere Milliarden sind zwar geplant, doch warum nicht gleich den mutigen Schritt wagen? Gleichzeitig gibt es nach wie vor zahlreiche Regelungen, die eigentlich Großunternehmen adressieren, kleine und mittlere Betriebe aber gleichermaßen mit Auflagen belasten. Bei Gesetzen wie dem Lieferkettengesetz sollten Mittelstand und Handwerk grundsätzlich ausgenommen sein, denn wie soll etwa eine kleine Konditorei jede verwendete Kakaobohne auf Gesetzeskonformität prüfen? Das politische Handeln bleibt zu stark auf die Großen ausgerichtet und verkennt die Realität der Kleinen. Genau das meine ich mit zunehmender Entmündigung.
Wie das denn?
Wir haben in Deutschland 502 Sozialleistungen. Das ist ein unübersichtliches Gebilde an Zuständigkeiten, Anforderungen und Berechtigungen. Dazu kommen Förderprogramme und Subventionen in großer Zahl. Das alles führt dazu, dass sich immer weniger Menschen eigenverantwortlich durch das System bewegen können. Das führt zu einer Entmündigung.
Kein Betrieb möchte auf die Förderung verzichten.
Das ist leider so. Es ist ein Symptom dafür, dass der Staat an zu vielen Stellen kompensieren muss, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen. Und auch das ist ein Symptom der fortschreitenden Entmündigung.
Und wie kommen wir da raus?
Mit einer politischen Führung, die strategisch denkt und bereit ist, auch gegen Widerstände Neues zu wagen: Adenauers Westbindung, Brandts Ostpolitik, Kohls Einheit und Schröders Agenda 2010 stehen für Weichenstellungen, die das Land geprägt und nach vorne gebracht haben. Diese Art Entschlossenheit brauchen wir wieder. Ich hoffe und setze auf Merz und Klingbeil. Die Krisen sind so groß und vielfältig, dass Mikrokorrekturen nicht reichen: Wir brauchen einen Befreiungsschlag.
Wie soll das unter den komplizierten Umständen gelingen?
Ich setze auf Selbstwirksamkeit. Wir alle müssen wieder zu einer Kultur zurückfinden, in der sich mehr Eigenverantwortung, mehr Leistungsbereitschaft und Solidarität ergänzen. Dazu benötigen wir mehr denn je eine solidarische Volkspartei, die weniger auf Gleichmacherei setzt, wie die SPD es befürwortet, sondern wieder mehr in die Menschen vertraut.
Sie werden Anfang Dezember als Handwerkspräsident wiedergewählt. Als Sie vor drei Jahren ins Amt kamen, nannten Sie die Fachkräftesicherung als Schwerpunktthema. Versprochen und gehalten?
Im Gegensatz zu anderen Branchen haben wir leicht steigende Ausbildungszahlen. Die Zuwanderungsregeln wurden verbessert. Das baden-württembergische Fleischerhandwerk mit inzwischen 300 indischen Fachkräften ist nur ein Beispiel, wie Zuwanderung funktionieren kann. Unsere Imagekampagne läuft erfolgreich. Und weil wir wissen, nur mit Nachwuchs geht’s, haben wir das Budget dafür um 30 Prozent erhöht.
Und das zieht die Jungen zum Handwerk?
In einigen Berufen ist es sicherlich schwieriger, aber es gibt zahlreiche Positivbeispiele: Schornsteinfeger, Bestatter, Elektriker, Bäcker und Anlagemechaniker Sanitär-Heizung-Klima verzeichnen zum Teil klare Zuwächse. Und viele Geflüchtete, die 2015 und 2016 kamen, haben ihre Ausbildung abgeschlossen und sind heute tragende Säulen in unseren Betrieben. Das zeigt, dass Integration über Arbeit gelingt.
Warum sind hierzulande drei Millionen Menschen unter 35 Jahren ohne Berufsabschluss?
Der Datenschutz spielt eine Rolle: Nach dem Schulabschluss verschwinden viele junge Menschen aus dem Blick der Institutionen und tauchen erst Jahre später wieder auf, nicht selten im Bürgergeldsystem. Deshalb müssen die Jugendberufsagenturen in den Bundesländern gestärkt werden. Wir brauchen aber auch flexible Bildungsangebote, wie Teilqualifikationen für über 25-Jährige, die schrittweise zum Berufsabschluss und zur sicheren Beschäftigung führen. Zudem erwischt uns jetzt die Coronakrise im zweiten Stepp: Viele Schulabgänger bringen nicht mehr die Grundkompetenzen mit, die sie brauchen. Pisa, IQB-Bildungstrend und weitere Studien belegen, wir müssen nach dem Schulabschluss immer mehr nachbessern und ausgleichen. Ich spreche aus eigener Erfahrung: In unserem Betrieb geben wir inzwischen Nachhilfeunterricht in Mathematik.
Dann steht das Thema Ausbildung auch in den kommenden drei Jahren in Ihrem Fokus?
Ja, aber nicht nur. Meine größere Sorge gilt dem Zustand unserer Demokratie. Wirtschaftliche Schwäche, gesellschaftliche Spaltung und geopolitische Konflikte wirken zusammen. Das Handwerk mit seinen 5,6 Millionen Beschäftigten ist ein stabilisierender Faktor. Wir brauchen mehr Freiheit, mehr Verantwortung und weniger staatlichen Dirigismus, wenn wir den Zusammenhalt bewahren wollen.
Sie zweifeln an der Funktionsfähigkeit der Demokratie?
Wir befinden uns im dritten Rezessionsjahr und die strukturellen Probleme verschärfen sich. Die gesetzliche Krankenversicherung ist finanziell am Limit, die Rente nicht zukunftsfest. Und ein System mit 502 Sozialleistungen ist nicht solidarisch, sondern unübersichtlich und ineffizient.
Wenn es solidarischer zugehen sollte, dann wäre eine höhere Erbschaftsteuer, wie sich auch der Sachverständigenrat vorschlägt, ein Weg.
Die Erbschaftsteuer ist nicht der richtige Ansatz, weil sie Betriebs- und Unternehmensnachfolgen gefährdet. Aber der Gedanke dahinter stimmt: Stärkere Schultern müssen mehr tragen.
Und wie?
Indem wir eine wettbewerbsfähige Einkommensteuer einführen, gleichzeitig Leistungen gezielter gestalten und wieder eine neue Balance zwischen Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft und sozialer Sicherheit schaffen.