Handwerk als Schlüssel zur Transformation 2035

Holger Schwannecke, Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks
Foto: ZDH/Henning Schacht
Warum die Zukunftsfähigkeit Deutschlands nur mit der Innovations- und Umsetzungskraft des Handwerks gelingen kann
Deutschland steht in den kommenden Jahren vor einem tiefgreifenden Transformationsprozess. Künstliche Intelligenz, Automatisierung und digitale Technologien verändern nahezu alle Branchen in rasantem Tempo. Parallel dazu gerät das bisherige Modell der Globalisierung weiter unter Druck: Geopolitische Spannungen verschärfen sich, Handelskonflikte nehmen zu, Lieferketten werden fragiler und neue Barrieren, wie zuletzt durch die US-Zollpolitik, werden installiert. Das stellt exportorientierte Volkswirtschaften vor zusätzliche Hürden. Dennoch bleiben Deutschland und die EU überzeugte Verfechter offener Märkte. Die Realität zeigt aber, dass wir uns weniger selbstverständlich auf globale Partner verlassen können. Resilienz, technologische Eigenständigkeit und regionale Wertschöpfung werden damit strategisch wichtiger. Zugleich muss wegen des globalen Klimawandels unsere Art des Wirtschaftens klimaschonend umgestellt werden.
Die entscheidende Frage lautet also: Wie kann Deutschland nicht nur Schritt halten, sondern diese Transformation aktiv mitgestalten und dabei seine Rolle als eine der führenden Wirtschaftsnationen behaupten? Die Antwort auf diese Frage liegt nicht allein in Großindustrie und Konzernen. Mit seinen rund eine Million Betrieben und 5,6 Millionen Beschäftigten ist das Handwerk ein unverzichtbarer Partner bei der Gestaltung des vor uns liegenden Transformationsprozesses. Es verbindet Innovationsfähigkeit mit praktischer Umsetzungsstärke, direkt vor Ort, bei den Menschen, in den Regionen. Genau dort spielt das Handwerk seine Stärken aus. Es verankert Produktion, Montage, Service und Wartung in der Fläche und macht Wertschöpfung damit weniger störanfällig. Handwerksbetriebe können so die Funktionsfähigkeit vor Ort sichern und unsere Wirtschaft stabilisieren – gerade in volatilen Zeiten. Das zeigt auch ein Blick auf die wohl weitreichendste Veränderung, die vor uns liegt.
KI verändert vieles – das Handwerk bleibt unverzichtbar
Der Einsatz Künstlicher Intelligenz prägt zunehmend den Alltag vieler Berufe. Analysen, wie etwa die vor kurzem erscheinende Studie von Microsoft Research (Tomlinson et al. 2025: “Working with AI: Measuring the Occupational Implications of Generative AI.”) zu Veränderungen von Berufsbildern durch KI, zeigen: Tätigkeiten rund um Sprache, Information und Beratung sind bereits heute durch KI in großem Maße unterstützbar und häufig sogar ersetzbar.
Ganz anders das Bild im Handwerk. Wo praktische Fähigkeiten, Kreativität, Empathie und Präsenz gefragt sind, stößt KI an ihre Grenzen. Ob beim Bau eines Daches, beim Verlegen von Leitungen oder bei der Restaurierung von Möbeln: Handwerkliche Arbeit lässt sich nicht an Algorithmen delegieren. Vielmehr profitieren handwerkliche Betriebe davon, wenn KI als Werkzeug Prozesse unterstützt, sei es bei der Planung, beim Design oder der Materiallogistik. Dies schafft mehr Freiräume für die eigentlichen handwerklichen Tätigkeiten.
Diese Erkenntnis verdeutlicht: Das Handwerk ist keine Branche, die im Zuge der Transformation verschwindet. Es ist eine Branche der Zukunft. Während eine Reihe von akademischen Berufen in Bereichen wie Kommunikation oder Beratung durch KI unter Druck geraten, steigt die Nachfrage nach praktischen und kreativen handwerklichen Leistungen kontinuierlich. Das verdeutlicht nicht nur der anhaltend hohe Fachkräftebedarf in Deutschland.
Klimaschutz nur mit dem Handwerk
Besonders sichtbar wird die Rolle des Handwerks bei den Transformationen zum Klimaschutz. Photovoltaikanlagen, Wärmepumpen, Dämmungen oder Ladeinfrastrukturen: All diese Technologien können nur durch Handwerkerinnen und Handwerker installiert, gewartet und in Betrieb genommen werden. Nur mit dem Know-how der Fachkräfte aus dem Handwerk kann es gelingen, ambitionierte Klimaziele zu erreichen.
Das Handwerk ist damit weit mehr als ein “Dienstleister am Ende der Wertschöpfungskette”. Es ist der entscheidende Faktor für die Umsetzung aktueller politischer und gesellschaftlicher Vorhaben. Wenn wir von Dekarbonisierung sprechen, von Wärmewende, von Elektromobilität oder von Kreislaufwirtschaft, kann all das nur Realität werden, wenn genügend Handwerkerinnen und Handwerker mit entsprechender Qualifikation zur Verfügung stehen.
Die Nachfrage nach handwerklichen Leistungen wird deshalb in den kommenden Jahren weiter steigen. Das gilt nicht nur für die großen Projekte der Energiewende, sondern auch für alltägliche Aufgaben, die für die Lebensqualität der Menschen unverzichtbar sind, von der Versorgung mit Wärme und Wasser über Lebensmittel bis hin zu gesundheitsbezogenen Produkten und Dienstleistungen. Für Politik und Gesellschaft heißt das: Wer die Transformation ernsthaft angehen will, sollte das Handwerk stärken.
Lokale Wertschöpfung als strategischer Vorteil
Wer den vor uns liegenden Transformationsprozess mit erhobenem Haupt meistern möchte, braucht Partner, die schnell, flexibel und zuverlässig liefern. Genau hier liegen die Wettbewerbsvorteile des Handwerks. Kurze Wege, direkte Kommunikation, Kenntnis der lokalen Gegebenheiten und die Fähigkeit, maßgeschneiderte Lösungen zu entwickeln, machen Handwerksbetriebe zum idealen Partner bei Investitions- und Transformationsprojekten. Das gilt für Kommunen ebenso wie für Industrieunternehmen, die auf standortnahe Zulieferer und Servicepartner setzen.
Dabei geht es vor allem um Resilienz. Globale Vernetzung bleibt wichtig, aber robuste regionale Ökosysteme sind die beste Versicherung gegen externe Schocks. Handwerksbetriebe bilden das Rückgrat dieser Ökosysteme, sie sichern Betriebsbereitschaft, Qualität und Verfügbarkeit.
Innovation aus Tradition, Stabilität aus gesellschaftlicher Verwurzelung
Handwerk bedeutet längst nicht mehr ‚bloße Tradition‘. Viele Betriebe sind hoch innovative Problemlöser, die digitale Technologien kreativ einsetzen und neue Geschäftsmodelle entwickeln. Tischlereien nutzen KI-gestützte Entwurfssoftware, Bäckereien setzen auf digitale Produktionsoptimierung, Malereibetriebe arbeiten mit Robotern zur Unterstützung bei körperlich anspruchsvollen Tätigkeiten.
Diese Innovationskraft des Handwerks wird im politischen und gesellschaftlichen Diskurs jedoch oft unterschätzt. Während sich die Aufmerksamkeit meist auf Industrieunternehmen richtet, tragen Handwerksbetriebe erheblich zur technologischen Weiterentwicklung bei – oft leiser, aber dafür direkt und praxisnah.
Doch das Handwerk ist nicht nur ökonomisch bedeutend, sondern auch sozial enorm stabilisierend. Handwerksbetriebe sind in den Regionen verwurzelt, sie sichern Arbeits- und Ausbildungsplätze vor Ort und sind Teil der sozialen Infrastruktur. Ihre gesellschaftliche Wirkung reicht daher weit über die reine Wertschöpfung und Wirtschaftskraft hinaus.
Zugleich trägt das Handwerk erheblich zur Integration bei – von Geflüchteten ebenso wie von Fachkräften aus Drittstaaten. Es eröffnet Frauen zunehmend attraktive Karrierewege und bietet jungen Menschen unabhängig von Herkunft oder Bildungshintergrund die Chance, durch eigene Leistung erfolgreich zu sein. Diese integrative Wirkung macht das Handwerk zu einem Fundament für gesellschaftlichen Zusammenhalt in unsicheren Zeiten großer Umbrüche.
Handwerk als Zukunftsbranche und Karriereoption
Mit seinen über 130 Ausbildungsberufen bietet das Handwerk vielfältige und zukunftssichere Karrieremöglichkeiten, von der Ausbildung über die Meisterqualifikation bis hin zur Selbstständigkeit. Anders als in manchen akademischen Berufen, die durch KI stark beeinflusst werden, können Handwerkerinnen und Handwerker darauf vertrauen, dass ihre praktischen, kreativen und sozialen Fähigkeiten weiterhin unverzichtbar bleiben.
Vergleiche zeigen zudem, dass das Lebenseinkommen von Meisterinnen und Meistern durchaus mit dem akademisch Qualifizierter vergleichbar ist, bei oftmals geringerem Risiko der Arbeitslosigkeit. Zugleich bietet das Handwerk Aufstiegschancen bis hin zur Unternehmensgründung oder -nachfolge. Rund ein Viertel aller Neugründungen im Handwerk erfolgen inzwischen durch Frauen, und auch Hochschulabsolventinnen und -absolventen finden im Handwerk attraktive Tätigkeitsfelder, wenn ihre Qualifikationen zum Profil der jeweiligen Betriebe passen – insbesondere in Führungspositionen oder bei Betriebsübernahmen.
In der Gesamtschau zeigt sich also, wer ins Handwerk geht, entscheidet sich nicht nur für einen Beruf mit Tradition, sondern für eine Branche, die im Zentrum der gesellschaftlichen Transformation steht. Das Handwerk ist nicht der “Plan B”, sondern für viele der “Plan A” mit Sinn, Stabilität und echten Zukunftsaussichten.
Fazit: Potenziale nutzen – Handwerk stärken
Die Transformation 2035 stellt Deutschland vor gewaltige Herausforderungen. Doch sie eröffnet auch Chancen. Das Handwerk ist dabei unverzichtbar: als Umsetzer der Klimawende, als nicht durch KI ersetzbare Zukunftsbranche, als Innovationsmotor, als gesellschaftlicher Stabilitätsfaktor und als Anker regionaler Resilienz in einer Welt, die weniger berechenbar wird.
Damit diese Rolle voll zur Geltung kommt, muss die Politik die Bedeutung des Handwerks stärker anerkennen und es gezielt unterstützen: durch Investitionen in die berufliche Bildung, durch Bürokratieabbau, durch innovationsfreundliche Rahmenbedingungen und eine mittelstandstaugliche Wirtschaftspolitik. Die Antwort auf die Frage, wie Deutschland auch 2035 noch eine führende Wirtschaftsnation bleibt, liegt auf der Hand: Das Handwerk ist der Schlüssel. Je mehr wir dessen Innovations- und Umsetzungskraft nutzen, desto besser gelingt die Transformation. Die Potenziale sind da, ergreifen wir sie.
Über den Autor
Holger Schwannecke ist seit 2010 Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH) und damit Experte für die Mittelstands- und Handwerkspolitik in Deutschland. Zuvor leitete der Jurist ab 1995 die Rechtsabteilung des ZDH und übernahm 2004 die Geschäftsführung des Unternehmerverbandes Deutsches Handwerk. Vor dem Wechsel zum ZDH schloss er 1991 sein Studium der Rechtswissenschaften an der Philipps-Universität Marburg mit dem zweiten juristischen Staatsexamen ab.