Selbstverwaltung im Handwerk ist gelebte Demokratie

Foto: ZDH/Henning Schacht
Herr Dittrich, Sie sind aktuell der „Brotbotschafter“ des Bäckerhandwerks. Wie haben es die Bäcker geschafft, zuletzt und gegen den Trend elf Prozent mehr Azubis zu gewinnen?
Klappern gehört zum Handwerk. In einer Informationsgesellschaft muss man auf sich aufmerksam machen. Das tun die Bäcker sehr einfallsreich, indem sie bekannte Songs und soziale Medien nutzen, die Ausbildungsinitiative „Back Dir Deine Zukunft“ mit digitalen Angeboten wie dem AzubiCampus gestartet haben, oder die Zusatzfortbildung zum Brot-Sommelier anbieten. Hinzu kommt das Bedürfnis nach gesunder Ernährung in der Bevölkerung, die viele mit handwerklich gefertigten Backwaren verbinden.
Rund ein Viertel der Azubis in den Backstuben hat einen Migrationshintergrund, manche Bäcker rekrutieren Nachwuchs sogar in Südostasien und Nordafrika.
In Bayern haben sich Bäcker zusammengetan und rund 300 junge Leute aus Vietnam gewonnen. Der baden-württembergische Fleischerfachverband hat zusammen mit der Handwerkskammer Freiburg vor einigen Jahren begonnen, Inder zu rekrutieren; inzwischen sind das auch rund 300. Manche der hier ausgebildeten Bäcker und Fleischer werden von ihren Betrieben in die Heimat geschickt, um dort für das deutsche Handwerk zu werben.
Wie wichtig sind Migranten für das Handwerk insgesamt?
Das Handwerk ist Integrationsmotor, schon immer. Der Anteil an Beschäftigten mit Migrationshintergrund ist hoch. Gut die Hälfte von den Geflüchteten, die in Deutschland eine berufliche Ausbildung machen, lernt in Handwerksbetrieben, deutlich mehr als in anderen Wirtschaftsbereichen. Integration und Inklusion gehören zur DNA des Handwerks.
Inzwischen wird auch ganz gut bezahlt: Im Bäckerhandwerk fängt der Azubi bei 1020 Euro/Monat an und bekommt im 3. Jahr 1230 Euro.
Damit stemmt sich die Branche gegen die schwierigen Rahmenbedingungen. Doch das stößt an Grenzen, wenn sich das wirtschaftlich nicht mehr trägt. Ein handwerklich arbeitender Bäcker konkurriert mit industrieller Massenproduktion und mit Teiglingen aus Brasilien oder China. Und wenn dann die Sozialabgaben für Löhne – wie es inzwischen der Fall ist – 42 Prozent ausmachen, trifft das das personalintensive Handwerk besonders hart.
Die neue Regierung will die Bonpflicht und das Backverbot am Sonntag aufheben, überhaupt Bürokratie abbauen, Investitionen steuerlich fördern und Energie billiger machen. Bringt das den erhofften Stimmungswandel?
Ich sage immer, dass das Glas halbvoll ist und nicht halbleer. Die Sehnsucht der Menschen nach Zuversicht ist groß nach drei Jahren Rezession. Wenn jetzt alle mitziehen, kann es wieder aufwärts gehen. Eine gute Grundstimmung hilft dabei ungemein.
Die jüngste Umfrage im Handwerk ergab zumindest einen positiven Trend bei den Geschäftserwartungen.
Das stimmt. Darin drückt sich die Hoffnung aus, dass sich etwas bewegt. Ein echter Vertrauensvorschuss an die neue Regierung. Den sollte diese jetzt durch entschlossenes Handeln einlösen. Was die tatsächliche Lage im Handwerk betrifft, haben wir unterschiedliche Entwicklungen. Den Gesundheitsgewerken geht es auch deshalb nicht gut, weil die Krankenkassen in Not sind; der Hochbau und die Ausbaugewerke kommen nicht in Schwung – was passiert mit dem Gebäudeenergiegesetz? Den Kfz-Werkstätten geht es gut, weil Viele ältere Autos lieber reparieren lassen als sie zu ersetzen. Die Nahrungsmittelgewerke spüren hingegen die Konsumzurückhaltung.
Wie sehr hilft die angekündigte Preissenkung bei der Energie?
Das ist eine spürbare Entlastung, gerade für energieintensive Gewerke wie etwa Bäcker und Fleischer, die immer kühlen müssen, oder auch für Textilreiniger, Metallhandwerke, Glaser oder Galvaniseure. Entscheidend ist: Die Entlastung muss für alle Betriebe und Unternehmen kommen – ob im Handwerk oder der Industrie. Wenn der Strompreis sinkt, dann wirkt das wie ein natürlicher Booster für die Wärmepumpe und das E-Auto mit den dafür nötigen Ladesäulen: Davon profitiert dann auch das Handwerk. Was aber noch gar nicht ausreichend auf dem Schirm von Gesellschaft und Politik ist: Der demografische Wandel als eine der größten Herausforderungen. Was da an Veränderungen und Reformen nötig ist, das wird sträflich ausgeblendet.
Damit meinen Sie die Belastung der Sozialsysteme.
Selbst wenn wir keine Schulabbrecher mehr hätten, alle Älteren und Frauen länger arbeiten würden und die Zuwanderung perfekt liefe - uns fehlen schlicht die nötigen Fach- und Arbeitskräfte und damit auch die Beitragszahler in die sozialen Sicherungssysteme. Gleichzeitig steigen dort die Ausgaben immer weiter. Das sind Fakten, um die man sich nicht herumdrücken kann. Doch genau das geschieht seit Jahren. Wie ein Versteckspiel mit zugehaltenen Augen.
Die neue Regierung hofft auf Wachstum, mehr Arbeitskräfte, höhere Einnahmen.
Das wird nicht ausreichen. In den kommenden Jahren gehen die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge in Rente. Doch die Politik macht einen Bogen um das Thema, möglicherweise auch, weil viele Wählerinnen und Wähler der Regierungsparteien älter als 60 Jahre sind. Doch schon heute tragen sich viele Geschäftsmodelle wegen der hohen Lohnzusatzkosten nicht mehr. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.
Wie reagieren Politiker auf Ihre Warnungen?
Man dringt nicht durch oder es gibt den Vorwurf, den Sozialstaat abbauen zu wollen. Doch die Realität ist, wie sie ist. Die neue Gesundheitsministerin muss nach ein paar Tagen im Amt 800 Millionen Euro für die Krankenkassen auftreiben. Ich bin ehrlich empört, dass sich die Politik dem Thema nicht stellt. Doch der demografische Wandel ist da und duldet keinen Aufschub. Jetzt soll sich wieder einmal eine Kommission um die Rente kümmern. Wir haben aber keine Zeit zu verlieren.
In einer anderen Kommission, nämlich die für den Mindestlohn zuständige, sitzt auch ein Vertreter des Handwerks. Sind 15 Euro bereits 2026 erreichbar, wie es im Koalitionsvertrag steht?
Es steht im Koalitionsvertrag, dass die Mindestlohnkommission die Höhe des Mindestlohns festlegt. Für mich ist der Sachverhalt eindeutig: Die Kommission ist unabhängig.
Also sind 15 Euro im nächsten Jahr nicht zwingend?
Die Kommission soll abwägen, so steht’s im Gesetz. Orientierungsmaßstab sollen Tariflöhne und Medianlohn sein, aber auch die vorherrschende Konjunktur- und Arbeitsmarktlage. Der Mindestlohn ist kein Mittel gegen teures Leben in den Ballungsräumen. Zugleich darf er lohnintensive Betriebe in strukturschwachen Regionen nicht überfordern, weil die sonst dicht machen. Hier die Balance zu finden, ist Aufgabe der Kommission.
Wie frustrierend ist das, als Präsident von 5,6 Millionen Handwerkerinnen und Handwerkern gegen die Windmühlen der Politik kämpfen zu müssen?
Ich sehe es als meinen Auftrag, positive Entwicklungen anzustoßen. Ich habe sechs Kinder und würde mich schämen, wenn ich denen sagen müsste: Es wird euch schlechter gehen als uns. In diesen Zeiten muss unsere Demokratie beweisen, dass sie auch ohne Autokraten die notwendigen Veränderungen hinbekommt. Das ist echt eine Hausnummer, weil wir aus geschichtlichen Gründen ein föderaler Staat mit sehr ausgeprägter Machtverteilung sind. Darin liegt aber auch eine Chance.
Inwiefern?
Nehmen wir das Handwerk mit den vielen Innungen und Handwerkskammern. Unsere Durchschlagskraft ist viel größer als in anderen Ländern aufgrund unserer breiten Basis. Die Selbstverwaltungsorganisationen der Wirtschaft sind maßgebliche Träger einer lebendigen Demokratie.
Deshalb wird am 12. Juni gemeinsam mit dem Bundespräsidenten ein doppelter Geburtstag gefeiert: Die Handwerkskammern werden 125 Jahre und der Zentralverband 75 Jahre alt.
Es berührt mich sehr, wenn ich in die Geschichte schaue. Denn dieser Blick in die Geschichte zeigt, wie viel Engagement und Weitblick unsere Vorgänger aufgebracht haben. Sie haben im Kaiserreich dafür gestritten, am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt teilzuhaben. Sie wollten die Ausbildung verbessern und haben damit das Fundament gelegt für das, was heute weltweit als „Made in Germany“ geschätzt wird. Diese Tradition der Selbstverwaltung ist ein echter Schatz, den es zu bewahren gilt. Dafür müssen wir ehrenamtliches Engagement in der Selbstverwaltung so organisieren und fortentwickeln, dass es in die Zukunft trägt.