Zentralverband des
Deutschen Handwerks
22.09.2025

"Wir brauchen einen Herbst der Entscheidungen"

Das Handwerk erwartet mutige Reformen: ZDH-Präsident Jörg Dittrich fordert im RND-Interview Entlastungen, Verlässlichkeit und mehr Wertschätzung.
Portrait Dittrich

Das Handwerk braucht Verlässlichkeit und spürbare Entlastungen. Die Regierung muss den Mut zu Reformen aufbringen und endlich entschlossen handeln, fordert ZDH-Präsident Jörg Dittrich bei Andreas Niesmann und Johanna Apel vom RedaktionsNetzwerk Deutschland.

Herr Dittrich, stimmt das Klischee vom ewig jammernden Handwerker?

Nein! Die allermeisten Handwerker sind optimistische Menschen, die etwas schaffen wollen und Freude an ihrer Arbeit haben. Beim „Tag des Handwerks“ an diesem Samstag werden Sie das deutschlandweit erleben können.

Warum ist die Stimmung in den Betrieben trotz guter Auftragslage und anstehender Milliardeninvestitionen in die Infrastruktur so schlecht?

Weil sich viele Handwerkermeisterinnen und -meister, aber auch deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht wahrgenommen fühlen. Die öffentliche Debatte rankt sich bisher um Autobauer und Stahlbosse. Das ist sicher nötig, aber die deutsche Wirtschaft besteht zu über 90 Prozent aus mittelständischen Betrieben. Die leiden vermutlich sogar noch stärker als die Großindustrie unter überbordender Bürokratie, steigenden Kosten und ausbleibenden Entlastungen. Es geht abseits der Auftragslage um die Perspektive und den Eindruck fehlender Wertschätzung. Wir Handwerker wollen sehen, dass die Bundesregierung auch unsere Probleme ernst nimmt und angeht.

Nennen Sie mal eines.

Es gibt eine Menge. Aber ich fange mal mit etwas an, das schnell lösbar wäre: die Bon-Pflicht. Ihre Abschaffung steht im Koalitionsvertrag. Die Regierung könnte das sofort machen. Es ist aber nicht auf dem Weg. Stattdessen wird weiterhin für jedes Brötchen ein Bon ausgedruckt. Millionen Zettel, jeden Tag. Warum nutzt die Politik nicht solche Gelegenheiten, um zu zeigen: Wir verbessern ganz konkret und spürbar Euren Alltag, sichtbar auch für alle Kundinnen und Kunden. 

Vielleicht, weil es gerade größere Probleme gibt?

Unbestritten, aber die werden ja auch nicht angegangen. Wenn mein Eindruck wäre, dass Union und SPD hart an einer Reform zur Begrenzung der Sozialkosten arbeiten, würde ich ruhiger sein. Das ist aber nicht mein Eindruck. Stattdessen werden diese drängenden Fragen in Kommissionen verlagert, fast so, als hätten wir ein Erkenntnisproblem. Haben wir aber nicht! Wir brauchen einen Herbst der Entscheidungen, keine weiteren Kommissionen und Gesprächsrunden.

Schwarz-Rot ist mit einer gewissen Aufbruchstimmung gestartet. Ist die wieder weg?

In großen Teilen des Handwerks leider ja. Wenn der Investitionsbooster zwar kommt, aber Betriebe dennoch keine Maschinen bestellen, weil sie nicht an morgen glauben und ihnen die Zuversicht fehlt, ist das ein Alarmsignal. Und es zeigt auch: Abschreibungsmöglichkeiten allein bringen die Wirtschaft nicht in Gang, sondern nur in Kombination mit deutlich besseren Rahmenbedingungen.

An welcher Stelle hat die Regierung die Wirtschaft verloren?

Beim Thema Verlässlichkeit. Wenn im Koalitionsvertrag und im Sofortprogramm eine Stromsteuersenkung für alle steht, die dann aber kurzfristig wieder kassiert wird, fragen sich die Leute: Wie viel sind politische Zusagen überhaupt wert und wie lange? Das ist Gift für die Investitionsbereitschaft.

Die Stromsteuersenkung hätte 2 Cent pro Kilowattstunde gespart. Damit retten Sie keinen Bäcker und auch keine Reinigung…

Natürlich rettet das keine Bäckerei. Aber es wäre ein klares Signal: Wir sehen euch, wir nehmen euch wahr. Wir reagieren! Stattdessen wurde eine komplizierte Bürokratie-Lösung für einzelne Sektoren gebastelt. Die Folge: neue Ungerechtigkeiten. Land- und Forstwirte profitieren von der niedrigeren Stromsteuer, Fleischer mit eigener Produktion auch. Aber die Fleischerei-Verkaufsfiliale oder der Bäcker mit Aufbackstation? Fehlanzeige. Das nervt und sorgt für Frust. Dazu kommen Mindestlohnanpassungen, Umweltauflagen, immer mehr Dokumentationspflichten. Und über die steigenden Sozialbeiträge für Rente, Kranken- und Pflegeversicherung haben wir noch gar nicht gesprochen. Da türmen sich gewaltige Kostensteigerungen auf.

Haben Sie eine Lösung für dieses Problem?

Es wäre ja schon mal sinnvoll, sich überhaupt auf ein Ziel zu verständigen. 40 Prozent Lohnzusatzkosten galten lange als maximale vertretbare Obergrenze. Inzwischen liegen wir längst deutlich darüber, und die nächsten Steigerungen sind in Sicht. Viele Betriebe, die im Handwerk ja lohnintensiv sind, können das schlicht nicht mehr stemmen. Ich sage es deutlich: Ein System, das so nicht mehr finanzierbar ist, gehört ganz schnell und dringend auf den Prüfstand. Wenn es die Parteien der Mitte nicht machen, kommt irgendwann jemand mit der Kettensäge. Und das kann nicht in unserem Interesse sein. 

Wo wollen Sie kürzen?

Wenn ich jetzt ein konkretes Beispiel nenne, wird das sofort zerredet. Das hilft der Sache nicht. Deshalb nur so viel: Die Sozialversicherungen müssen effizienter werden, wir brauchen mehr Eigenverantwortung und ja, auch der Debatte über Leistungskürzungen können wir nicht ewig ausweichen, darüber werden wir reden müssen. Ein Instrument allein wird ohnehin nicht reichen. Man muss an das gesamte System ran und hier sicherlich an vielen Stellen neu denken.

Sie wollen eine Reform, die allen wehtut?

Es geht um die Sicherung für die Zukunft und den Erhalt der Sozialversicherungen. Umso wichtiger ist eine faire und solidarische Lastenverteilung. Zu glauben, mit einer höheren Erbschafts- oder Vermögenssteuer wäre die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft wieder zu erlangen, ist ein Trugschluss. Genauso wenig wird es reichen, allein auf Kürzungen zu setzen. Wir müssen den Mut haben, das Gesamtsystem in den Blick zu nehmen. Mein Wunsch wäre ein nationaler Konsens: ein gemeinsamer Schulterschluss der Gesellschaft. Aber ich bin kein Träumer, ich bin Realist. Trotzdem muss die handelnde Parlamentsmehrheit Schritte zur Stabilisierung unserer sozialen Sicherungsysteme angehen. Auch wenn das furchtbar unbequem ist.

Das Ausbildungsjahr hat gerade begonnen. Gibt es da wenigstens gute Nachrichten?

Ja, im Handwerk haben wir entgegen dem allgemeinen Trend einen leichten Anstieg bei neuen Lehrlingen. Das ist ein Erfolg vor dem Hintergrund, dass immer weniger Jugendliche von der Schule kommen, weil weniger Kinder geboren wurden. Unser Ziel: von diesen kleineren Jahrgängen mehr junge Menschen ins Handwerk holen. Damit das gelingt, muss berufliche Ausbildung für Jugendliche attraktiv sein, die Ausbildungsorte müssen auf dem neuesten technologischen Stand gehalten werden: Dafür brauchen wir Investitionen. Alleine für die handwerklichen Bildungszentren liegen für die nächsten Jahre Bauanzeigen von 3,6 Milliarden Euro vor. Wir haben einen Investitionsstau. Und wir müssen die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung endlich gesetzlich verankern und klarer machen.

Unter Büroangestellten geht die Angst um, von KI ersetzt zu werden. Handwerksgesellen haben dieses Problem nicht, oder?

Das Handwerk profitiert von Robotik und Digitalisierung. Wir nutzen Daten und Maschinen, wo sie helfen und die Arbeit erleichtern. Doch der Kern der handwerklichen Tätigkeiten bleibt händisch. Und kein Algorithmus ersetzt den Kundenkontakt. Es gibt kaum etwas Sinnstiftenderes, als wenn jemand sagt: „Danke, dass Sie gekommen sind, jetzt funktioniert die Heizung wieder.“ Wer Sicherheit und Perspektive sucht, ist deswegen im Handwerk genau richtig. 

Spüren Sie dadurch mehr Nachfrage?

Noch nicht genug. Wir müssen die Botschaft klarer vermitteln: Handwerk ist krisensicher, sozial relevant und sinnstiftend. Gerade in unsicheren Zeiten ist das ein Alleinstellungsmerkmal.

Gleichzeitig sind die Verdienstmöglichkeiten angestellter Handwerker schlechter als jene von Angestellten in akademischen Berufen. Könnten die Betriebe ihr Nachwuchsproblem nicht selbst lösen – indem sie einfach besser bezahlen?

Die Löhne im Handwerk sind in den letzten Jahren spürbar gestiegen. Doch der Ruf nach „einfach mehr bezahlen“ greift zu kurz. Denn wer höhere Löhne zahlt, muss diese auch erwirtschaften. Für viele Kunden sind die Preise aber schon jetzt kaum noch tragbar. Wer verstehen will, warum das so ist, muss, wie gesagt, das gesamte System in den Blick nehmen: Steuern, Sozialabgaben, gesetzliche Vorgaben: All das fließt in die Preise ein. Nur wenn wir hier ansetzen, schaffen wir echten Spielraum für bessere Bezahlung, ohne Betriebe oder Kunden zu überfordern. 

Ein Auszubildender zum Elektriker verdient unter 1000 Euro brutto, ein ausgelernter Tischlergeselle startet mit etwa 3000 Euro netto. Reicht das, um attraktiv zu sein?

Die Ausbildungsbetriebe zahlen, was wirtschaftlich möglich ist. Die Ausbildungsvergütung ist kein Vollzeitlohn, sondern eine Unterstützung während der Lernphase. Bedenken Sie, dass Auszubildende die Hälfte der Zeit in der Schule sind. Wenn wir Ausbildungsvergütungen und Löhne deutlich erhöhen wollen, brauchen wir auch gesellschaftliche Akzeptanz für höhere Preise. Denn wenn die Leistungen unbezahlbar werden, verlieren wir am Ende nicht nur den Nachwuchs, sondern auch Jobs. Und: Ausbildung ist eine kostenintensive Investition für Handwerksbetriebe. Dafür braucht es auch mehr Wertschätzung. 

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