"Mehr Respekt für die berufspraktische Ausbildung"

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"Die Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Bildung muss im Gesetz festgeschrieben werden, damit dies bei den Finanzplanungen auch entsprechend beherzigt werden muss. Es braucht eine verstärkte Berufsorientierung über die Karriere- und Berufsmöglichkeiten im Handwerk – gerade auch an Gymnasien, um so mehr junge Menschen für diesen zukunftssicheren Berufsweg zu gewinnen", fordert ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer gegenüber Nina Kallmeier von der "Neuen Osnabrücker Zeitung".
Kunden, die ihr Haus oder ihre Wohnung sanieren wollen, müssen zurzeit lange auf einen Handwerker warten. Teils heißt es sogar, wer kein Stammkunde ist, hat schlechte Karten. Sehen Sie das ähnlich?
Ich würde es positiv formulieren wollen: Stammkunden haben derzeit sicherlich die besseren Karten, bei Handwerksbetrieben einen Termin zu bekommen, die man schon von früheren Aufträgen kennt. In diesen ungewissen Zeiten bauen natürlich auch unsere Betriebe gerne auf gewachsene, verlässliche Geschäftsbeziehungen und haben ein Interesse daran, ihren Stammkunden auch weiter mit guten Produkten und Dienstleistungen zur Verfügung zu stehen. Auch wenn ich gerne Anderes sagen würde: Generell ist es derzeit tatsächlich so, dass Kundinnen und Kunden wegen der nach wie vor bestehenden Materialengpässe, aber auch des Fachkräftemangels in vielen Betrieben, leider auch in diesem Jahr mit längeren Wartezeiten und mit höheren Preisen rechnen und das entsprechend einplanen müssen.
Ist es aus Handwerkssicht so schlimm, auch mal Aufträge ablehnen zu müssen?
Aufträge abzulehnen macht für einen Handwerksbetrieb in dem Moment Sinn, wenn er erkennbar nicht die Kapazitäten hat, um den Auftrag solide und gut auszuführen. Den Kundinnen und Kunden das dann auch ehrlich so zu sagen, werte ich als Qualitätsausweis für einen Betrieb, dem daran gelegen ist, stets gute, einwandfreie und termingerechte Arbeit abzuliefern. Grundsätzlich ist das Selbstverständnis im Handwerk aber schon so, dass angefragte Aufträge möglichst auch übernommen werden, sofern es zum Leistungsprofil des Betriebes passt und die Vertragskonditionen stimmen. Handwerkerinnen und Handwerker wollen anpacken und arbeiten.
Gerade im Baugewerbe ist über die vergangenen Jahre Personal aufgebaut worden, viele neu gegründete Betriebe sind der Branche zuzuordnen. Warum fehlt es trotzdem an Fach- und Nachwuchskräften?
Die Bauaktivitäten sind im vergangenen Jahrzehnt deutlich gestiegen, wegen der niedrigen Bauzinsen und des Hochfahrens der öffentlichen Infrastrukturausgaben hat sich die Nachfrage erhöht, was im Ergebnis zu Kapazitätsengpässen im Bausektor geführt hat. Hinzu kamen auch immer weiter verschärfte Standards, etwa für die Energieeffizienz von Gebäuden, für die man entsprechend qualifizierte Fachkräfte braucht. Auf dem Arbeitsmarkt sind derzeit Fachkräfte mit solchen spezifischen Kenntnissen im Bereich der Energieeffizienz trotz intensiver Suche unserer Betriebe nicht in ausreichendem Maße zu finden. Die demografische Entwicklung und die vielen zusätzlichen Tätigkeitsfelder bei Energie, Klimaschutz, Netz- und Wohnungsbau lassen hier leider auch kaum eine zeitnahe Entschärfung der Lage erwarten.
Wo liegen die Probleme des Handwerks beim Thema Fachkräfte-/Nachwuchsgewinnung? Gerade die Tatsache, dass zum Erreichen der Klimaziele etc. Handwerksleistung gebraucht wird, müsste doch die beste Visitenkarte für einen zukunftssicheren und krisenfesten Job sein.
Das sehen wir im Handwerk ganz genau so: Wer Zukunft gestalten will, wer Klimaschutz aktiv als Beruf betreiben will, wem Nachhaltigkeit wichtig ist, wer seinen eigenen Betrieb leiten will, der ist im Handwerk genau richtig. Es sind Handwerkerinnen und Handwerker, die die von der Politik vereinbarten Zukunftsaufgaben anpacken und umsetzen: Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes DIE Zukunftsmacher. Die Arbeit wird dem Handwerk in den kommenden Jahren ganz sicher nicht ausgehen und es sind anspruchsvolle und zukunftsrelevante Tätigkeiten voller Entwicklungs- und Fortbildungspotenzial, die auf junge Menschen im Handwerk warten. Diese Einsicht ist in Gesellschaft und Politik noch nicht wie es notwendig wäre verbreitet.
Wie erklären Sie sich, dass das Image einer Ausbildung im Handwerk offenbar nach wie vor nicht das Beste ist?
Das ist in erster Linie eine Konsequenz aus dem in den vergangenen Jahrzehnten vorherrschenden Bildungsansatz, nur mit Abi und Studium etwas erreichen und werden zu können. Und dem damit einhergehenden geringen Respekt der Gesellschaft für berufspraktische Ausbildung und Arbeit. Hier ist dringend eine Kehrtwende nötig: Uns muss als Gesellschaft und Wirtschaft insgesamt daran gelegen sein, wieder mehr junge Menschen für handwerkliche Berufe zu begeistern: Nur mit genügend Azubis haben wir die dringend nötigen Fachkräfte in der Zukunft. Wenn diese Fachkräfte jedoch fehlen, dann werden die Folgen nicht nur das Handwerk, sondern die Gesellschaft und die ganze deutsche Wirtschaft spüren.
Da wären wir schon beim nächsten Problem: Brücken müssen saniert werden, Wohnungen gebaut, der Altbestand an Wohnungen/Häusern saniert, um nur ein paar Beispiele zu nennen – kann das Handwerk in der Fläche diesen Anforderungen der Politik gerecht werden? Schaffen die Betriebe das?
Im Gesamthandwerk waren schon vor der Pandemie Ende 2019 bei der Bundesagentur für Arbeit rund 140.000 unbesetzte Stellen im Handwerk gemeldet. Doch nicht alle Betriebe melden ihre offenen Stellen bei der Bundesagentur (BA), sodass von einer höheren Zahl auszugehen ist. Unsere Schätzungen gehen daher davon aus, dass vor der Pandemie rund 250.000 Stellen allein im Handwerk nicht besetzt werden konnten, weil die Betriebe keine geeigneten qualifizierten Fachkräfte finden konnten.
Hat die Corona-Pandemie die Situation verbessert oder verschlechtert?
Die Corona-Pandemie hat an dem hohen Bedarf an beruflich qualifizierten Fachkräften nichts geändert – im Gegenteil: Qualifizierte Fachkräfte werden nach Ende der Pandemie in allen Wirtschaftsbereichen gebraucht, um die Zukunftsfelder wie Klimaschutz, Energie- und Mobilitätswende, Wohnungsbau wie auch energetische Gebäudesanierungen, digitalen wie analogen Infrastrukturausbau, zu gestalten. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass all die zusätzlichen Vorhaben der neuen Bundesregierung besonders im Klima- und Umweltschutz mit dem jetzigen Stamm an Beschäftigten im Handwerk nicht hinzubekommen sind. Wir brauchen mehr beruflich qualifizierte Fachkräfte im Handwerk.
Was ist zu tun, damit wir diese Fachkräfte in der Zukunft haben?
Weil die berufliche Ausbildung der entscheidende Schlüssel zur Fachkräftesicherung ist, muss Politik ihren Fokus mit höchster Priorität auf die berufliche Bildung richten und zum Gegenstand ihres politischen Handelns machen. Politik muss die berufliche Ausbildung – auch finanziell – gleichwertig zum akademischen Bereich wertschätzen und fördern. Die Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Bildung muss im Gesetz festgeschrieben werden, damit das bei den Finanzplanungen dann auch entsprechend beherzigt werden muss. Es braucht eine verstärkte Berufsorientierung über die Karriere- und Berufsmöglichkeiten im Handwerk - gerade auch an Gymnasien, um so mehr junge Menschen für diesen zukunftssicheren Berufsweg zu gewinnen.