Vergabebeschleunigungsgesetz: Expertengutachten zum Losgrundsatz
In ihrem Expertengutachten für die Bundesvereinigung Bau und den ZDH bewerten Professor Dr. rer. pol. Michael Eßig (Universität der Bundeswehr München) und Professor Dr. iur. Martin Burgi (Ludwigs-Maximilians- Universität München) die Bedeutung des Erhalts des Primats der Fach- und Teillosvergabe bei der öffentlichen Auftragsvergabe für Mittelstand und Wettbewerb aus beschaffungswirtschaftlicher und vergaberechtlicher Perspektive.
Ergebnisse des Gutachtens
1. In einer mittelständisch geprägten Wirtschaft, wie sie insbesondere im Bau- und Handwerksgewerbe vorliegt, ist es von besonderer Bedeutung und für die öffentlichen Auftraggeber auch von besonderem Interesse, dass sich kleine und mittlere Unternehmen (KMU) um öffentliche Aufträge bewerben. § 97 Abs. 4 S. 1 GWB sieht deshalb vor, mittelständische Interessen “bei der Vergabe öffentlicher Aufträge vornehmlich zu berücksichtigen.” Das zentrale Instrument hierfür ist der Grundsatz der Losvergabe nach § 97 Abs. 4 S. 2 GWB, wonach Leistungen in der Menge aufgeteilt (Teillose) und getrennt nach Art oder Fachgebiet (Fachlose) zu vergeben sind. Eine Durchbrechung ist aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen möglich (§ 97 Abs. 4 S. 3 GWB). Die Rechtsprechung hat der Praxis hierzu klare Vorgaben gemacht. Gefordert wird eine Abwägung, nicht (wie teilweise behauptet) die Geltendmachung objektiv zwingender Gründe. Zudem ist ein Beurteilungsspielraum für die Auftraggeber anerkannt.
2. Der von der Bundesregierung eingebrachte Entwurf eines Vergabebeschleunigungsgesetzes will insbesondere die Zugangshürden für den Mittelstand durch weitgehende Bürokratieentlastung senken. Dennoch soll der Grundsatz der losweisen Vergabe partiell eingeschränkt werden, aber “nur” zur Verwirklichung dringender Infrastrukturvorhaben im Zusammenhang mit dem neuen Sondervermögen und bei Überschreitung eines hohen Auftragswertes. Deutlich weiter möchte der Bundesrat gehen, dessen Stellungnahme eine zusätzliche Durchbrechung des Losgrundsatzes aus nicht näher spezifizierten “zeitlichen” Gründen für sämtliche Arten von Aufträgen fordert. Dies entspricht exakt dem Regelungsvorschlag der Ampelregierung. Eine derart weite Aufweichung des Losgrundsatzes wirkt kontraproduktiv, weil KMU und Handwerksbetriebe dadurch faktisch von der Teilnahme am Markt ausgeschlossen werden: Ihre “Befreiung” von Bürokratielasten besteht dann darin, dass sie in Zukunft gar keine oder signifikant weniger öffentliche Aufträge bekämen.
3. Aus beschaffungswirtschaftlicher Perspektive spielen KMU eine wichtige Rolle bei der öffentlichen Auftragsvergabe. Es ist ausdrücklich im Sinne der öffentlichen Auftraggeber, die Rolle von KMU zu stärken – sowohl um den Wettbewerb überhaupt zu ermöglichen, als auch, um die spätere Leistungserbringung sicherzustellen. Die empirische Analyse auf Basis der Ausschreibungsdatenbank der Europäischen Kommission (TED) liefert Befunde zur Wettbewerbsintensität und zeigt, dass die durchschnittliche Zahl an Angeboten je Vergabe (als zentraler Indikator der Wettbewerbsintensität) für den Bereich Bau in den Jahren 2017 bis 2023 bei 3,71 Angeboten liegt (Mittelwert), während der Durchschnitt über alle Branchen hinweg 2,96 beträgt. Der Anteil von KMU an der Anzahl vergebener Aufträge liegt zwischen 2017 und 2023 zwischen 59% und 83%, ihr Anteil am Volumen der vergebenen Aufträge zwischen 38% und 72%. Dies belegt die Schlüsselrolle von KMU im Bausektor, die damit einen wesentlichen Beitrag zur Umsetzung öffentlicher Investitionsprogramme leisten.
4. Eine Auswertung qualitätsgesicherter empirischer Studien zu den Einflussfaktoren zeigt, dass das Auftragsvolumen zentral und entscheidend für die prinzipielle wie auch erfolgreiche Beteiligung von KMU ist. Hier sind die Befunde eindeutig. Die Unterteilung von Aufträgen in “passende” Volumina ermöglicht es KMU, überhaupt in Wettbewerbsverfahren einzutreten, da sie die Ressourcen für großvolumige Aufträge oftmals nicht bereitstellen können. Will der Gesetzgeber diesen Wettbewerb erhalten und sogar ausbauen, was angesichts der empirischen Daten geboten wäre, darf er auf Instrumente der Volumensteuerung nicht verzichten. Die losweise Vergabe ist im Moment das einzige vergaberechtliche Instrument, das ihm dazu zur Verfügung steht.
5. Selbstverständlich bedarf es neben der Regulierung insbesondere auch einer guten Implementierung. Die Studienergebnisse zeigen, dass es einer sorgfältigen Gestaltung der Lose bedarf. Die Gruppe der KMU “in sich” ist nicht homogen, d.h. die Volumenaufteilung wirkt noch stärker bei kleinen und Kleinstunternehmen. Eine ausgewogene Losbildung ist daher von zentraler Bedeutung für Vergabestellen, wollen sie erfolgreich Aufträge am Lieferantenmarkt platzieren. Insofern sind die Rahmenbedingungen in der Beschaffung dafür zu schaffen, in den jeweiligen Teilmärkten (namentlich der Baubranche) angemessen tätig werden zu können. Will man die volle Wirkung eines “guten” Wettbewerbs erreichen, sind flankierende Maßnahmen erforderlich. Die losweise Vergabe stellt einen wichtigen und relevanten, jedoch nicht allein ausschlaggebenden Einflussfaktor auf die Beteiligung von KMU an öffentlichen Vergaben dar.
6. Aus vergaberechtlicher Perspektive würde der in § 97 Abs. 1 S. 1 GWB als erstes Prinzip des Vergaberechts normierte Wettbewerbsgrundsatz signifikant geschwächt. Eine Aufweichung des Losgrundsatzes geriete aber auch mit dem vergaberechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 97 Abs. 2 GWB (in Spezifizierung des Art. 3 Abs.1 GG) in Konflikt. Denn durch die Entscheidung für eine Losvergabe werden überhaupt erst gleiche Wettbewerbsbedingungen eröffnet. Auf dem Spiel steht überdies die Verantwortung der öffentlichen Aufgabenträger für die Sicherstellung einer erfolgreichen und rechtskonformen Erfüllung der jeweiligen Sachaufgaben im Interesse der Bürgerinnen und Bürger (Brückensanierung, Kita-Erweiterung, Geothermienutzung etc.). Sie besteht vor und nach der Zuschlagserteilung und beinhaltet eine möglichst rasche, dabei aber auch qualitativ hochwertige und resiliente Realisierung des jeweiligen Vorhabens.
7. Jede Rechtsänderung bei der Losvergabe würde in der Praxis zunächst für Rechtsunsicherheit sorgen und Nachprüfungsverfahren auslösen, dies in Relation zur Bestimmtheit des jeweiligen Regelungsvorschlags. Während der Regierungsentwurf die Anforderungen des Bestimmtheitsgebots wahrt, indem er den zeitlichen Aspekt an drei sachliche und eindeutig definierte Kriterien knüpft, begegnet der Vorschlag des Bundesrates insoweit erheblichen Bedenken.
8. Am 9. September 2025 hat das Europäische Parlament mit großer Mehrheit eine Entschließung zur Reform der Vergaberichtlinien angenommen, auf deren Grundlage die Europäische Kommission bis Ende 2026 einen Verordnungs- oder Richtlinienentwurf vorlegen will. Einer der Kerninhalte der Entschließung besteht in der Forderung, die “durchgehende Aufteilung von Aufträgen in kleinere Lose” zum Regelfall zu erheben. Spätestens ab dem Zeitpunkt der Verabschiedung des europäischen Reformpakets würde eine über die unionsrechtlich zulässigen Durchbrechungsgründe hinausgehende Aufweichung des Losgrundsatzes daher unionsrechtswidrig. Bis dahin wäre die Anwendungspraxis in kurzer Zeit mit zwei Regimewechseln konfrontiert.