BVerfG: Verzinsung von Steuererstattungen und -nachforderung
Bis einschließlich in das Jahr 2018 fallende Verzinsungszeiträume ist das bisherige Recht ferner für weiter anwendbar erklärt worden. Für ab in das Jahr 2019 fallende Verzinsungszeiträume sind die Vorschriften dagegen nicht mehr anzuwenden. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat den Gesetzgeber weiter verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17).
Hintergrund
§ 233a AO regelt die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen. Die Verzinsung betrifft den Zeitraum zwischen der Entstehung der Steuer und ihrer Festsetzung (Grundsatz der Vollverzinsung). Der Zinslauf beginnt allerdings nicht bereits mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, sondern erst nach einer zinsfreien Karenzzeit von grundsätzlich 15 Monaten. Von der Vollverzinsung betroffen sind damit lediglich diejenigen Steuerpflichtigen, deren Steuer erst nach Ablauf eines längeren Zeitraums nach der Entstehung des Steueranspruchs erstmalig festgesetzt oder geändert wird. Praktisch bedeutsam sind insoweit insbesondere (geänderte) Steuerfestsetzungen nach einer Außenprüfung. Die Zinsen betragen nach § 238 Abs. 1 AO für jeden vollen Monat des Zinslaufs 0,5 %, mithin 6 % jährlich. Von der Verzinsung erfasst werden nur die in § 233a Abs. 1 Satz 1 AO abschließend aufgezählten Steuerarten der Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Vermögensteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer. Die Vollverzinsung wirkt sowohl zugunsten (im Fall der Steuererstattung) als auch zuungunsten (im Fall der Steuernachforderung) der Steuerpflichtigen. Die Gründe für eine späte Steuerfestsetzung und insbesondere, ob die Steuerpflichtigen oder die Behörde hieran ein Verschulden trifft, sind für die Verzinsung unerheblich.
Sachverhalt
Die Verfassungsbeschwerden haben die Festsetzung von Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO auf Gewerbesteuer nach einer Außenprüfung zum Gegenstand. Die Beschwerdeführerinnen wenden sich gegen die Verzinsung bestätigenden fachgerichtlichen Urteile. Mittelbar wenden sie sich gegen § 233a AO, soweit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO bei der Zinsberechnung Anwendung findet. Gegenstand der verfassungsrechtlichen Prüfung ist ein Verzinsungszeitraum vom 1. Januar 2010 bis zum 14. Juli 2014.
Der erkennende Erste Senat des BVerfG hat in den Beschlussgründen u.a. folgende Kernaussagen getroffen:
Die Verzinsung von Steuernachforderungen mit einem Zinssatz von monatlich 0,5 % nach Ablauf einer zinsfreien Karenzzeit von grundsätzlich 15 Monaten stellt eine Ungleichbehandlung von Steuerschuldnern, deren Steuer erst nach Ablauf der Karenzzeit festgesetzt wird, gegenüber Steuerschuldnern, deren Steuer bereits innerhalb der Karenzzeit endgültig festgesetzt wird, dar.
Diese Ungleichbehandlung erweist sich gemessen am allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG für in die Jahre 2010 bis 2013 fallende Verzinsungszeiträume noch als verfassungsgemäß, für in das Jahr 2014 fallende Verzinsungszeiträume dagegen als verfassungswidrig.
Ein geringere Ungleichheit bewirkendes und mindestens gleich geeignetes Mittel zur Förderung des Gesetzeszwecks bestünde insoweit in einer Vollverzinsung mit einem niedrigeren Zinssatz. Die Unvereinbarkeit der Verzinsung nach § 233a AO mit dem Grundgesetz umfasst ebenso die Erstattungszinsen zugunsten der Steuerpflichtigen. Das bisherige Recht ist für bis einschließlich in das Jahr 2018 fallende Verzinsungszeiträume weiter anwendbar.
Für ab in das Jahr 2019 fallende Verzinsungszeiträume sind die Vorschriften dagegen unanwendbar. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen.
Das BVerfG hat in seiner Pressemitteilung vom 18. August 2021 weitere wesentliche Erwägungen des Senats veröffentlicht.
Hinweise
In den Gründen erteilt der erkennende Senat einer Erstreckung der Unvereinbarkeitserklärung auf die anderen Verzinsungstatbestände nach der Abgabenordnung (AO) zulasten der Steuerpflichtigen, namentlich auf Stundungs-, Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen nach den §§ 234, 235 und 237 AO eine Absage (Rz. 242).
Ferner ist folgende Ausführung von Bedeutung für die Praxis (Rz. 258): „Soweit Zinsfestsetzungen – unabhängig von der Frage, ob dies einfach-rechtlich zulässig ist – vorläufig ergangen sind, wird die Finanzverwaltung beziehungsweise die Gemeinde im Fall von Erstattungszinsen auf die Gewerbesteuer zu prüfen haben, ob und inwieweit der Aufhebung oder Änderung einer Zinsfestsetzung zuungunsten der Steuerpflichtigen die Vertrauensschutzregelung des § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 239 Abs. 1 Satz 1 AO (in Verbindung mit § 1 Abs. 2 Nr. 5 AO) entgegensteht.“ Es bleibt daher abzuwarten, ob die Finanzverwaltung die entsprechenden Zinsfestsetzungen ändert, oder eine solche aufgrund des entgegenstehenden Vertrauensgrundsatzes unterbleibt.
Die Finanzämter wurden bereits mit BMF-Schreiben vom 2. Mai 2019 (Az. IV A 3 -S 0338/18/10002) angewiesen, die Festsetzung von Zinsen, in denen der Zinssatz nach § 238 Abs.1 Satz 1 AO mit 0,5 % pro Monat angewendet wird, gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO i. V. m. § 239 Abs. 1 Satz 1 AO vorläufig vorzunehmen. In Fällen, in denen Zinsfestsetzungen zu Lasten des Steuerpflichtigen erfolgt sind, wird die Finanzverwaltung diese Zinsfestsetzung von Amts wegen ändern.
Entsprechendes gilt, soweit die Gewerbesteuerzinsbescheide durch die Städte und Gemeinden vorläufig erlassen wurden. Auch hier ist ein gesondertes Tätigwerden des Steuerpflichtigen nicht erforderlich. Soweit die Gemeinden und Städte die Verfahren ruhend gestellt haben (in analoger Anwendung von § 251 ZPO), werden diese nunmehr unter Berücksichtigung der Entscheidung abgeschlossen.