„Wir müssen alles tun, um genügend Fachkräfte auszubilden“

„Wir müssen alles tun, um genügend Fachkräfte auszubilden. Gerade deshalb ist es wichtig, dass die Politik ihr Programm „Ausbildungsplätze sichern“ nicht nur mindestens bis zum Jahresende fortsetzt“, betont ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer im Interview mit Karin Birk und Steffen Range von der „Deutschen Handwerks Zeitung“.
Herr Wollseifer, wie bewerten Sie die jüngsten Bund-Länder-Beschlüsse?
Das ist ein Öffnungsplan mit angezogener Handbremse. Da wäre wesentlich mehr drin gewesen. Die jetzigen Beschlüsse sind wieder nur auf die Inzidenzwerte fixiert. Andere Aspekte wie etwa der R-Wert, die Belegung der Intensivbetten in Krankenhäusern, die Mortalitätsrate, der Impffortschritt oder die Verfügbarkeit von Tests – das alles bleibt außen vor. Auch die vielen sehr guten Hygienekonzepte etwa in den Gastronomiebereichen von Bäckereien und Konditoreien oder auch in Autohäusern werden nicht gewürdigt. Damit wird die ersehnte Öffnung der Betriebe noch weiter in die Zukunft verschoben. Kurz gesagt: Der Öffnungsplan ist völlig unzureichend.
Immerhin gibt es einen.
Das stimmt. Es werden fünf Öffnungsschritte genannt. Wir sind auch froh, dass im ersten Schritt zum Monatsanfang die Friseure ihre Geschäfte öffnen konnten. Wir freuen uns auch, dass es in einem zweiten Öffnungsschritt bei den körpernahen Dienstleistungen wie Kosmetikstudios weiter geht. Auch vom dritten Schritt, von der Öffnung des Einzelhandels profitieren Handwerksbetriebe, nicht zuletzt Autohäuser. Die mögliche Öffnung der Außengastronomie zwei Wochen später bringt dem Lebensmittelhandwerk ebenfalls etwas. Diese Schritte aber immer nur an Inzidenzzahlen festzumachen, das ist der falsche Weg. Wir müssen viel mutiger und intelligenter vorgehen.
Wie?
Wenn heute in einem großen Unternehmen wie zuletzt etwa in der Fischindustrie Corona ausbricht und zahlreiche Beschäftigte infiziert werden, treibt das den Inzidenzwert nach oben. Doch anstatt bei einem solchen begrenzten Infektionscluster gleich eine ganze Region herunterzufahren, sollte man den Betrieb isolieren. Die Kanzlerin ist vorsichtig. Sie hat uns mit Sicherheit in der Vergangenheit vor viel familiärem Elend geschützt. Aber die Situation ist nicht mehr wie vor einem Jahr. Wir können jetzt impfen und testen. Allerdings gibt es gerade beim Impfen noch sehr viel Luft nach oben. Da muss jetzt endlich mehr passieren. Denn das entscheidende Instrument zur Bekämpfung der Pandemie ist und bleibt das Impfen.
Die Politik fordert, dass Unternehmen ihren Mitarbeitern kostenlose Schnelltests jede Woche anbieten. Was halten Sie davon? Müssen Mitarbeiter sich testen lassen? Lässt sich das umsetzen?
Das Handwerk als Teil der Wirtschaft übernimmt auch hier seine gesellschaftliche Verantwortung. Jeder Betrieb hat ein Interesse daran, Ansteckungen zu vermeiden, aber es muss auch umsetzbar sein. Deshalb müssen dringend noch ein paar Fragen geklärt werden. Zunächst einmal die Frage nach der Freiwilligkeit. Ich gehe in jedem Fall davon aus, dass das Testen für die Mitarbeiter freiwillig sein muss. Es muss meiner Ansicht nach aber auch für die Unternehmen freiwillig sein. Dann muss klar sein, was mit „kostenlosen Schnelltests“ gemeint ist. Sind es Tests, die von medizinischem Personal durchgeführt werden, oder sind es die neuen Selbsttests? Und dann stellt sich die Frage, wie das Testergebnis dokumentiert wird. Mein Vorschlag wäre, dass man es einfach hält. Dass man das Testergebnis nach oben hält und ein Selfie macht.
Ganz nach dem Motto: Gut gemeint, ist noch lange nicht gut gemacht?
So ist es. Denken Sie nur an die diversen Hilfsprogramme. Die Hilfen sind oft nicht zielgenau, die Hürden zu hoch und die Antragstellung über die Steuerberater zu kompliziert. Ich kenne Fälle, in denen die Betriebe nach vielem Hin und Her den Hürdenlauf der Beantragung geschafft und Anträge gestellt haben, aber die immer noch keinen Cent gesehen haben. Und ich sage es nochmal: Die Blockade des Finanzministers gegenüber einer zeitlichen Ausweitung des Verlustrücktrags ist für mich völlig unbegreiflich. Er hat eine große Chance vertan, tausenden von Betrieben zu helfen, indem er den Verlustrücktrag nicht nur auf ein, sondern auf zwei oder drei Jahre ausgeweitet hätte. Viele Betriebe hätten dann die Liquidität, die sie brauchen, um die nächsten Monate zu überleben.
Ist auch im Handwerk mit einer Insolvenzwelle zu rechnen?
Das können wir derzeit nicht quantifizieren. Drohende Insolvenzen werden uns ja nicht gemeldet. In unseren monatlichen Umfragen sehen wir aber, dass viele Betriebe mit deutlichen Umsatzeinbußen zu kämpfen haben. Oft mehr als 50 Prozent. Da kann man sich ausrechnen, wie lange man das durchhält. Wir haben Betriebsinhaber, die, um ihren Betrieb zu retten und ihre Mitarbeiter weiter zu beschäftigen, schon eine Hypothek auf ihr Haus aufgenommen haben oder an ihre Altersvorsorge gegangen sind. Das ist schon sehr bedrückend.
Das macht es für viele Betriebe auch deutlich schwerer, junge Leute auszubilden.
Ich mache mir große Sorgen um die Fachkräftesicherung durch die berufliche Ausbildung. Schon im vergangenen Jahr hatten wir unter der Pandemieeinwirkung einen deutlichen Einbruch der Neuvertragszahlen um rund 10.600 Verträge oder rund 7,5 Prozent. In der Gesamtwirtschaft – ohne das Handwerk – waren es sogar um die 12 Prozent. Auch die Zahlen zu Anfang dieses Jahres stimmen uns nicht gerade zuversichtlich. Doch wir müssen alles tun, um genügend Fachkräfte auszubilden. Gerade deshalb ist es wichtig, dass die Politik ihr Programm „Ausbildungsplätze sichern“ nicht nur mindestens bis zum Jahresende fortsetzt. Es muss auch für mehr Unternehmen zugänglich sein. Für das anstehende Ausbildungsjahr 2021/22 müssen die Mittel deshalb noch einmal aufgestockt werden. Aber Geld allein genügt nicht. Wir brauchen eine konzertierte Aktion für die berufliche Bildung. Wir müssen die Ausbildungszahlen zumindest halten. Das hätte sonst Auswirkungen nicht nur für die jungen Leute, die keine Ausbildung erhalten. Auch für die Betriebe, denen die Fachkräfte fehlen. Und für die Gesellschaft, die ohne die qualifizierten Fachkräfte irgendwann nicht mehr ausreichend mit guten Produkten und Dienstleistungen versorgt werden kann. Hierzu stehen unsere Ausbildungsbetriebe im Handwerk bereit, um auch während der Corona-Pandemie berufliche Einstiegschancen und darüber hinaus langfristige Beschäftigungsperspektiven zu ermöglichen.
Hoffen wir, dass wir die Pandemie bald hinter uns lassen. Wie muss eine Post-Corona-Strategie für den Neustart der Wirtschaft, für den Neustart des Handwerks aussehen?
Eine solche Strategie muss das Wachstum der Wirtschaft in den Vordergrund stellen. Unternehmen und Beschäftigte müssen wieder Luft zum Atmen haben. Steuern und Sozialabgaben müssen so sein, dass Betriebe wirklich prosperieren können und nicht erdrückt werden. Das gilt auch für die Bürokratie. Sozialabgaben dürfen keinesfalls mehr als 40 Prozent betragen, das ist schon die Schmerzgrenze. Wir dürfen nicht zulassen, dass bis 2040 – wie prognostiziert – die Sozialabgaben auf bis zu 50 Prozent anwachsen. Das wäre für Arbeitnehmer und Arbeitgeber fatal. Handwerk muss sich auch in Zukunft weiter lohnen, gerade auch für unsere Beschäftigten, die mehr netto im Portemonnaie verdienen. Gift für eine gute wirtschaftliche Entwicklung sind auch die hohen Strompreise, die wir immer stärker zu spüren bekommen. Das wird ein richtiges Problem, insbesondere für die stromintensiven Gewerke. Und nicht zuletzt hat die Pandemie gezeigt, wie schlecht wir noch immer bei der Digitalisierung etwa in Schulen oder der öffentlichen Verwaltung sind. Das alles müssen wir in den Blick nehmen.
Für dieses Jahr sind die Sozialversicherungsbeiträge noch bei 40 Prozent festgeschrieben. Was müsste passieren, dass eine weitere Stabilisierung gelingt?
Wir müssen gesamtwirtschaftliche Aufgaben auch gesamtwirtschaftlich finanzieren. Das gilt für die Krankenversicherung genauso wie für die Arbeitslosenversicherung und andere Bereiche der Sozialversicherung. Nehmen wir beispielsweise die Regelung, dass einer in der Familie krankenversichert und der Rest der Familie mitversichert ist. Natürlich wollen wir als Gesellschaft Kinder, aber dann müssen wir auch gesamtgesellschaftlich dafür einstehen. Oder nehmen wir Zahlungen für ALG-II-Bezieher. Hier müsste der Staat seinen Zahlungsverpflichtungen besser nachkommen.
Der Finanzminister macht eher den Eindruck, dass er noch mehr Geld ausgeben will. Die Sozialdemokraten kündigen schon jetzt Steuererhöhungen für die „oberen fünf Prozent“ an.
Es ist eine Grundsatzfrage: Steuererhöhungen sind Gift für die Weiterentwicklung der Betriebe, ob groß oder klein. Von daher sollte man davon absehen. Wir brauchen im Gegenteil intelligente Lösungen in der Steuerpolitik. Auch wenn ich im Verdacht stehe, gebetsmühlenartig immer das Gleiche einzufordern. Wir brauchen eine Thesaurierungsrücklage, die funktioniert. Wir brauchen eine Gleichstellung von Personengesellschaften mit Kapitalgesellschaften, damit Handwerker nicht mehr Steuern zahlen als große Konzerne. Betriebe müssen investieren können. Dann setzen sie mehr um. Dann beschäftigen sie mehr Menschen. Dann bezahlen sie auch mehr Steuern. Nur so wird ein Schuh daraus.