Sozialkompetenz ist mir wichtiger als Schulnoten

Das Interview führte Michael Rothe. Es ist am 17. September 2019 erschienen.
Herr Wollseifer, die Bundesregierung beugt sich nach vielen Jahren dem Druck des Handwerks und will für einige der 2004 deregulierten Berufe den Meisterbrief wieder zur Pflicht machen.
Die Politik hat sich aufgrund guter Argumente dafür entschieden, Fehlentwicklungen nach 2004 zu korrigieren. Es ist ein starkes Signal, dass die Koalition jetzt wieder zwölf Gewerke in die Anlage A der Handwerksordnung aufnehmen will.
Dennoch ist es eine unvollendete Rolle rückwärts, geht es doch um kaum ein Viertel der 53 Gewerke. Sagen Sie „nur zwölf“ oder „immerhin zwölf“?
Ziel war es von Beginn an und ist es, eine Korrektur dort fortzunehmen, wo sich feststellbar etwas in die falsche Richtung entwickelt hatte. In 53 Handwerken musste man nach 2004 nichts mehr können, um sich selbstständig zu machen. Das hat zum Verlust von Qualität und Ausbildungsfähigkeit geführt. Viele Betriebe waren hinzugekommen, meist Ein-Personen-Firmen, die nicht ausgebildet und sich nicht weitergebildet haben. Da ging viel Wissen verloren. Die Korrektur jetzt ist ein richtiger Schritt. Bei der jetzt von der Politik getroffenen Entscheidung gab es gute Kriterien wie Ausbildungsfähigkeit, Gefahrengeneigtheit, Verbraucherschutz, die Frage des Kulturguts.
Ist der Orgelbau etwa mehr Kulturgut als der unberücksichtigte Geigenbau?
Die Frage lässt sich natürlich stellen. Daher ist es gut, dass wir eine Evaluierung bekommen und in fünf Jahren noch einmal schauen, wie sich die Gewerke entwickelt haben.
Hätte man nicht einfach sagen können: „Sorry, wir haben uns geirrt und machen alles rückgängig?“
Wir haben heute eine ganz andere Situation als vor 15 Jahren. Damals gab es fünf Millionen Arbeitslose. Die damalige rot-grüne Regierung wollte schnell viele Leute durch Selbstständigkeit in Arbeit bringen. Das ist auf den ersten Blick gelungen – jedoch mit unerwünschten Nebenwirkungen. Viele dieser Unternehmen sind im Schnitt nur vier Jahre am Markt. Was ist da mit dem Verbraucherschutz, etwa am Bau, wo die Gewährleistungspflicht meist fünf Jahre beträgt? Im Zweifelsfall ist der Kunde der Dumme. Meisterbetriebe halten sich erfahrungsgemäß deutlich länger am Markt. Und sie bilden die Fachkräfte aus, die wir heute dringend brauchen.
Wie viele fehlen denn?
Die Bundesarbeitsagentur sagt 160 000. Wir reden von rund einer Viertelmillion, weil Viele ihre offenen Stellen gar nicht mehr melden.
Können Sie mit dem Bestandsschutz für bestehende Betriebe leben?
Ja, das regelt sich von allein. Bestandsschutz ist gut und für neue Inhaber gilt dann ohnehin, dass sie die Meisterprüfung nachweisen müssen.
Warum sind die Gebäudereiniger nicht dabei?
Das Bundeswirtschaftsministerium und die Bundestagsabgeordneten haben Fragebögen an alle Gewerke geschickt, mit der Frage, warum bei ihnen die Meisterpflicht wieder eingeführt werden sollte. Jeder hatte die Gelegenheit, die Gebäudereiniger haben darauf verzichtet. Und die Politik hat sich tatsächlich alle Gewerke angehört und dann ihre Entscheidung getroffen - auch mit Blick darauf, dass das dann vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand hat.
Das starke Signal, wie Sie es nennen, kam für CDU und SPD in Sachsen zu spät, um die Landtagswahl zu retten.
Beim Blick auf das Wahlergebnis schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Einerseits ist es gut, dass die bürgerlichen Parteien immer noch die Mehrheit der Stimmen und den Auftrag zu Regierungsbildung und Politikgestaltung in den nächsten Jahren bekommen haben.
Und andererseits?
... habe ich Sorgen, weil populistische Kräfte massiv Stimmen gewonnen haben. Dem kann man nur durch eine Politik entgegentreten, die die Bürger und ihre Alltagssorgen im Fokus hat. Die Bürger müssen wieder das Gefühl haben: Die „da oben“ kennen meine Probleme, versuchen sie zu lösen. Es muss wieder Vertrauen geschaffen werden, das in den letzten Jahren von der Kommunal- bis zur Bundespolitik verloren gegangen ist. Zu viele Versprechen wurden nicht gehalten.
Zum Beispiel?
... dass der Solidaritätszuschlag für alle und ganz abgebaut wird. Nun werden laut Bundesfinanzministerium zwölf Prozent der Gewerbetreibenden – und das sind ja gerade auch Handwerker - nicht oder nur teilweise entlastet, weil sie über der Ertragsschwelle von 74 000 Euro liegen. Das geht nicht. Politik muss sagen, was sie tut, und tun, was sie sagt. Ansonsten vertraut man ihr nicht.
Neider sagen: Da sieht man mal, wie gut es dem Handwerk geht, und jetzt diskutieren sie über die paar Euro Soli.
Wenn man mit einer GmbH 74 000 Euro übrig hat, sind Geschäftsführer bezahlt und Rücklagen gebildet. Das ist anders bei einem Handwerker, der als Personengesellschafter oder Einzelunternehmer unterwegs ist – was bei den meisten der Fall ist. Er hat dann als Inhaber noch nichts zum Leben entnommen. Das Geld wurde auch nicht in 35 Stunden pro Woche erwirtschaftet, sondern oft in der doppelten Zeit. Ihn nicht zu entlasten, ist ein Schlag gegen den Bug von Betrieben, die sich ins Zeug legen, um leistungsstark zu sein.
Es ist kein Geheimnis, dass unter den montäglichen Spaziergängern in Dresden viele Handwerker sind. Ist das und das häufige Votum für die AfD auch die Quittung für zu viel Bürokratie und zu wenig Breitband, Eisen- und Autobahn?
Pegida ist keine Handwerker-Demo, aber ohne Frage sind Handwerker dabei. Wir sind ja eine starke Gesellschaftsgruppe und insofern auch ein Spiegel der Gesellschaft und ihrer Strömungen. Sehr viele Bürger in Deutschland haben intensiven Bezug zum Handwerk – als Familie oder Mitarbeiter. Das Gros denkt: „Wir sind die Leistungsträger, zahlen Steuern vor Ort, bilden aus, beschäftigen Mitarbeiter. Und was kommt dafür von staatlicher Seite? Die Bürokratie drückt. Oft hat bis zu 40 Prozent der Arbeit mit teils unnötigem Papierkram zu tun. Und wir sind nach Belgien Vizeweltmeister bei Steuern und Abgaben. Andererseits gibt es kaputte Straßen, fehlen Breitband und Mobilfunk.“ Da kommt Unzufriedenheit auf – und einige wählen dann vermeintlichen Protest.
Wird Handwerk nicht wertgeschätzt?
Anerkennung ist ein entscheidender Schlüssel zur Lösung vieler Probleme im Handwerk. Inzwischen ist auch in der Politik angekommen, dass alle Zukunftsthemen, ob Energiewende, E-Mobilität oder Smart Home, nur mit dem Handwerk zu bewältigen sind. Hinzu kommt, was gerade im ländlichen Raum von Bedeutung ist: Wir stabilisieren Ortsgemeinschaften, sichern die Versorgung. Wenn das Handwerk nicht mehr da ist, Bäcker, Augenoptiker und Kfz-Werkstätten fehlen, gehen die jungen Leute weg, und der Ort verödet.
Wie steht es um die Integration von Flüchtlingen?
Ende 2018 waren 18 600 Flüchtlinge im Handwerk in Ausbildung. Wir schätzen, dass es Ende dieses Jahres über 20 000 sein werden. Schon jetzt macht jeder zweite Flüchtling in Ausbildung seine Lehre im Handwerk.
Ist diese Ausbildung die Mühe wert?
Auf jeden Fall. Ich habe selbst einen iranischen Azubi. Wenn man nur Einem helfen kann, sich in die Gesellschaft zu integrieren, hat es sich schon gelohnt. Klar ist aber auch: Die Fachkräftelücke können wir so allein nicht schließen. Es ist nur ein Mosaikstein. Es braucht mehr.
Nämlich was?
Wir müssen gezielt Fachkräfte nach Deutschland holen und noch besser inländische Potenziale bergen, etwa Langzeitarbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt integrieren.
Ein Argument ist guter Lohn – Sachsen, speziell die Lausitz, aber bundesweit Schlusslicht, auch wegen geringster Tarifbindung. Nur 15 Prozent der Betriebe sind in Innungen. Warum tut sich das Handwerk mit Tarifverträgen schwer?
Der Organisationsgrad ist bei uns genauso wie bei den Gewerkschaften leider rückläufig. Aus Sicht vieler Soloselbstständiger und Kleinstbetriebe lohnt sich Tarifmitgliedschaft nicht. Insofern fehlen schlicht die Verhandlungspartner. In der Lausitz mögen die Löhne niedrig sein, aber ehrlicherweise auch die Lebenshaltungskosten.
Aber trotzdem rennen die Leute weg.
Ich glaube, bei einer vernünftigen Infrastruktur würde mancher sehr gerne bleiben. Das Problem sind nicht unterschiedliche Lebensverhältnisse zwischen Ost und West oder Nord und Süd, sondern die zwischen Metropolen und ländlichen Regionen. Es muss attraktiv sein, auf dem Land zu leben. Der ZDH steht zu Tarifbindung und anständigen Löhnen. Wir möchten nicht, dass sich der Staat einmischt – weder beim Mindestlohn noch bei der Mindestausbildungsvergütung. Das ist Sache der Tarifparteien. Man muss die Wertschöpfung der Branchen und die Region berücksichtigen und kann nicht alle über einen Kamm scheren. Maßschneider und Friseure haben nicht die Wertschöpfung wie ein Baubetrieb. Gerade Ostbetriebe kann die Mindestausbildungsvergütung überfordern. Die bilden dann vermutlich nicht mehr aus, schlicht weil sie es sich nicht mehr leisten können.
Was ist die Lösung?
Ausbildungsbetriebe müssen entlastet werden. Es ist nicht selbstverständlich, dass unsere Betriebe mehr als 360 000 Jugendliche, 28 Prozent aller Lehrlinge, ausbilden. Das wollen sie anerkannt haben – nicht nur in Sonntagsreden.
Welcher Art?
In der Gleichbehandlung mit der studentischen Ausbildung. Studenten sind bei der Kranken- und Pflegeversicherung über die Familien mit versichert, ihre Unfallversicherung zahlen die Länder. Warum ist das nicht auch bei Azubis so? Die hätten dann mehr in der Tasche, die Betriebe würden sparen und fühlten ihre Ausbildungsleistung wertgeschätzt. Unsere Forderung ist weder maßlos noch unerfüllbar.
Könnte es deshalb bald so kommen, oder braucht es wieder einen Marathonlauf wie beim Meisterbrief?
Wir sind Marathonläufe gewöhnt und wissen, dass Sprints in der Politik selten zum Erfolg führen.
Jüngst hat Bundeswirtschaftsminister Altmaier seine Mittelstandstandsstrategie vorgestellt?
Gut, dass die Bundesregierung den Mittelstand im Fokus hat. Rund 95 Prozent der Unternehmen sind Mittelständler. Noch ist es ein Entwurf, über den auch mit den Spitzenverbänden in den nächsten Wochen diskutiert wird. Und wir haben Ideen, die aufgenommen werden könnten.
Welche sind das?
Die Sozialabgaben gehen durch die Decke, da muss ein Deckel drauf. 40 Prozent sind das Maximum. Arbeit muss sich lohnen. Und wir brauchen in Zeiten der Digitalisierung mehr Flexibilität. Die Wochenarbeitszeit muss regelbar sein, wenn Mitarbeiter beispielsweise an vier Tagen länger arbeiten und dafür ein langes Wochenende haben wollen. Dann müssen endlich die Mobilfunklücken geschlossen, Straßen und Brücken repariert werden. Es braucht ein Bürokratieentlastungsgesetz III, das Dokumentationspflichten abbaut und die Aufbewahrungsfrist für Belege um fünf Jahre reduziert. Außerdem gehört die Vorfälligkeit der Sozialabgaben zurückgeführt.
In Sachsen tobt gerade eine Diskussion um längeres gemeinsames Lernen in der Schule. Wo stehen Sie?
Es gibt gute Argumente für beides: nach der 4. Klasse aufs Gymnasium zu gehen und sich parallel um Leistungsschwächere zu kümmern. Aber auch dafür, dass Schüler sich in Gemeinschaften länger gegenseitig fördern.
Und wie halten Sie es mit Kopfnoten?
Kopfnoten auf dem Zeugnis sind hilfreich und wichtig. In NRW wurden sie als angeblich diskriminierend abgeschafft, leider. Lehrer können nach längerer Zeit schon beurteilen, wie das Sozialverhalten der Schüler ist. Wenn jemand unterdurchschnittliche Leistungen hat, ich aber sehe, dass er zuverlässig und fleißig ist, dann würde ich ihm eine Chance geben – und so denken viele Handwerker. Sozialkompetenz ist mir wichtiger als Schulnoten.