Zentralverband des
Deutschen Handwerks
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Deutschen Handwerks
10.03.2020

"Nachhaltigkeit liegt in der DNA des Handwerks"

ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer sprach mit der "Augsburger Allgemeinen" über die Chancen der Digitalisierung, Nachhaltigkeit und die abgesagte IHM.
Portraitfoto von ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer.

ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer sprach mit Stefan Lange von der Augsburger Allgemeinen über die Chancen der Digitalisierung in seiner Branche, Nachhaltigkeit und die abgesagte Messe in München.

Herr Wollseifer, das Coronavirus hat Deutschland im Griff. Die Handwerksmesse in München kann nicht stattfinden. Wie sehr schmerzt Sie die Absage?

Wollseifer: Das schmerzt uns wirklich sehr, dass wir die Publikumsmesse als solche absagen mussten. Denn die IHM ist unsere alljährliche Leistungsschau, bei der wir zeigen, was das Handwerk drauf hat. Es war bereits alles vorbereitet, um den Besucherinnen und Besuchern neue digitale Techniken, moderne Verfahren und neueste Lösungen bei Produkten und Dienstleistungen zu präsentieren. Das können wir nun nicht. Und es entstehen durch die Absage ja auch Kosten. Aber das darf nicht die Entscheidungsgrundlage sein und war es auch nicht. Wir haben alle Informationen gesammelt und sind den Kriterien des Robert-Koch-Instituts und der dringenden Empfehlung des bayerischen Gesundheitsministeriums gefolgt. Am Ende erschien das Risiko zu groß. Aber einige Veranstaltungen im Rahmenprogramm finden statt. Da laden wir gezielt ein, kennen die Teilnehmer, wir können Präventivmaßnahmen ergreifen, das Risiko ist überschaubar.

Befürchten Sie durch das Virus Auswirkungen auf die Branche?

Wollseifer: Bis jetzt haben wir von den Kammern oder den Innungsverbänden diesbezüglich einige wenige Meldungen bekommen. Vorstellbar ist aber, dass eine behördlich angeordnete Betriebsschließung zu einem erheblichen Ausfallschaden führt. Stellen Sie sich mal eine Großbäckerei mit 700 oder 800 Leuten vor. Wenn die 14 Tage nicht produzieren können, wächst der finanzielle Schaden in siebenstellige Höhen. In solchen Fälle wären die Mitarbeiter durchzuzahlen, es bestünde aber die Möglichkeit, Kurzarbeitergeld zu beantragen. Da beraten wir gerade intensiv, und es gibt sehr viele Betriebe, sie sich dazu kundig machen.

Die Handwerksmesse hätte unter anderem im Zeichen der Digitalisierung gestanden. Nun wurden ja auch in der Vergangenheit in der Branche schon Computer eingesetzt. Warum also gibt jetzt so einen Schwerpunkt?

Wollseifer: Digitalisierung im Handwerk auf den Computer zu beschränken, greift viel zu kurz. Es gibt bereits vielfältige digitale Anwendungen. Zunehmend greifen die bis in die Produktionsbereiche hinein.

Können Sie Beispiele nennen?

Wollseifer: Wir zeichnen demnächst einen Zahntechniker aus, der komplett vollautomatisiert arbeitet. Oder nehmen Sie die Maler, bei denen man annehmen könnte, dass es da nichts zu digitalisieren gibt. Ist aber falsch. Früher wurden die Häuser mit dem Zollstock vermessen, später mit dem Laser. Heute fotografieren wir das Gebäude, legen Parameter an und ein Programm rechnet alles aus. Bei Dachschäden muss niemand mehr nach oben klettern. Um das zu begutachten und auszumessen, werden Drohnen verwendet.  

Haben wir also eine Zwei-Klassen-Gesellschaft bei den Handwerkern? Einen, der gemütlich vom warmen Büro aus die Drohnen steuert. Und den anderen, der bei Regen aufs Dach krabbeln muss?

Wollseifer (schmunzelt): Nein, die krabbeln beide und die fliegen auch beide. Wir sind ständig dabei, unsere Berufsbilder zu aktualisieren und die Digitalisierung fließt da ein. In den Betrieben entstehen dadurch keine neuen Hierarchien, sondern es wird zunehmend traditionelles Handwerk mit digitaler Innovation verbunden. Und was man nicht vergessen darf: Die Digitalisierung erleichtert in vielen Fällen körperlich beschwerliche Arbeiten. Das könnte dann vielleicht auch noch mehr Frauen ermutigen, ins Handwerk zu kommen. Heutzutage werden beispielsweise schwere Materialien, Glasscheiben oder Spanplatten von Robotern getragen. Es wird alles körperlich einfacher.

Das andere große Thema der IHM wäre die Nachhaltigkeit gewesen. Was bitte schön ist damit gemeint?


Wollseifer: Nachhaltigkeit verstehen wir ganzheitlich und nicht allein bezogen auf Klima und Umwelt. Das deutsche Handwerk lebt Nachhaltigkeit jeden Tag und in vielen Dimensionen: ob bei Ausbildung und Qualifizierung, Beschäftigung, Existenzgründung, Unternehmensführung, sozialer Sicherung, bei der Gestaltung von Produktionsprozessen, bei der Ressourcenverwendung oder in der Kultur- und Denkmalpflege.

Klingt sehr theoretisch. Was leiten Sie draus ab?

Wollseifer: Die Politik täte gut daran, unser umfangreiches Erfahrungswissen für das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele zu nutzen und es noch stärker in politische Gestaltungsprozesse mit einzubeziehen. Da scheint mir noch reichlich Luft nach oben.

Sie spielen auf die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung an?

Wollfseifer: Richtig. Der Auftrag an die Politik ist, für unsere rund eine Million Handwerksbetriebe in Deutschland Bedingungen zu schaffen, die sie in die Lage versetzen, ihr Potenzial zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele voll ausschöpfen zu können. Das reicht von der besseren Planung regionaler Standortkonzepte und besseren Bedingungen für Betriebsübergaben, der Stabilität des Gesamtsozialversicherungsbeitrags für die Betriebe über praxisgerechten Arbeitsschutz und den Abbau von Bürokratie bis hin zu bezahlbarer Energie und einer besseren Förderung für Ausbildungsressourcen.

Was halten Sie vom neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz?

Wollseifer: Wir haben die Regierung beim Gesetzgebungsprozess positiv begleitet. Das Gesetz ist gut, aber jetzt gilt, dieses Gesetz in der Praxis auch gut umzusetzen, etwa bei der Erteilung von Visa. Die muss beschleunigt werden. Das Auswärtige Amt wird dazu richtigerweise jetzt extra eine zentrale Bundesbehörde in Brandenburg einrichten. Ein weiterer Flaschenhals könnten die Ausländerbehörden der Kommunen sein. Die Ausländerbehörden müssen als «Welcome Center» fungieren und nicht als Einwanderungsabwehrzentren, denn wir befinden uns im Wettbewerb mit anderen Einwanderungsländern. Dazu haben wir bereits mit Innenminister Horst Seehofer gesprochen.

Und wie gestaltet sich die Integration der Arbeitskräfte, die schon im Land sind? Haben sie Probleme mit Rassismus?


Wollseifer: Das läuft insgesamt gut.  Rund die Hälfte der Menschen, die 2015 gekommen sind, haben wir in Arbeitsprozesse gebracht. In der Wirtschaft insgesamt, nicht nur im Handwerk. Von den geflüchteten Jugendlichen aus den acht häufigsten Asylzugangsländern, die jetzt eine Lehre machen, bilden wir im Handwerk mehr als die Hälfte aus. Viele Flüchtlinge sind darüber hinaus als Helfer oder Facharbeiter tätig.

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