"Es gibt keine verlorene Generation"

Foto: ZDH/Boris Trenkel
Über den Ausbildungsmarkt im Pandemie-Jahr und die Sorge um ein verlorenes Ausbildungsjahr hat Britta Beeger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer gesprochen:
Herr Wollseifer, Politik, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände haben sich große Sorgen gemacht, dass die Unternehmen wegen der Corona-Krise dieses Jahr viel weniger Ausbildungsplätze anbieten könnten und ein ganzer Jahrgang von Schulabgängern auf der Strecke bleibt. Wie schlimm ist es denn nun gekommen?
Im Frühjahr hat sich tatsächlich eine dramatische Situation angebahnt. Die Betriebe, die mit Schwung ins Jahr gestartet sind, wurden im März jäh ausgebremst und befinden sich seitdem auf einer wirtschaftlichen Achterbahnfahrt. Viele machen sich große Sorgen, weil sie nicht abschätzen können, wie es für sie weitergeht. Zugleich konnten die Berufsorientierung und die Ausbildungsvermittlung, die im Frühling normalerweise Hochkonjunktur haben, nicht stattfinden, was die Jugendlichen stark verunsichert hat. Im Handwerk hatten wir Ende Mai 18 Prozent weniger neu abgeschlossene Ausbildungsverträge als im Vorjahr. Und dann haben wir uns auf eine Aufholjagd begeben.
Nach dem Motto: retten, was zu retten ist?
Uns war klar, dass wir sehr schnell umdenken müssen, um noch möglichst viele Ausbildungsverträge abzuschließen. Unsere Handwerkskammern und -fachverbände haben – häufig in Kooperation mit den Arbeitsagenturen - auf virtuelle Angebote gesetzt, zum Beispiel auf virtuelle Berufsberatung und Speeddatings mit potentiellen Arbeitgebern. Es gab WhatsApp-Ausbildungssprechstunden und virtuelle Betriebsführungen, um Jugendlichen ihre Fragen zu beantworten und ein Bild von einer handwerklichen Ausbildung zu vermitteln. Ende Oktober hatten wir dann rund 131.000 Neu-Verträge unterzeichnet, womit wir das Minus immerhin auf rund 7 Prozent drücken konnten. Das sind aber immer noch deutlich weniger Verträge als in Vor-Corona-Zeiten. Und nach wie vor sind rund 17.000 Ausbildungsplätze noch unbesetzt.
Das heißt es gibt, anders als befürchtet, keine verlorene Schüler-Generation? Ihnen fehlen sogar Bewerber?
Von einer verlorenen Generation kann man sicher nicht sprechen, ganz im Gegenteil: Jeder, der ausgebildet werden will, bekommt einen Ausbildungsplatz. Und im Handwerk kämpfen wir auch bis zum Jahresende weiter, um in der Nachvermittlung noch mehr Jugendliche in Ausbildung zu nehmen. Denn wir haben ja ohnehin schon einen sehr hohen Fachkräftebedarf, wenn nicht in den meisten Branchen des Handwerks sogar einen Fachkräftemangel. Wir brauchen also ganz dringend Nachwuchs, um das Land am Laufen zu halten – das reicht vom Augenoptiker bis zum Zimmerer und rund 130 weiteren Berufen dazwischen.
In diesem Jahr scheinen sich viele junge Menschen von vorneherein eine Alternative gesucht zu haben, etwa ein Studium.
Ja, und ich mache mir große Sorgen, dass die Verunsicherung durch die Corona-Krise dazu führt, dass sich dieser Trend noch verstärkt und sich noch mehr Schulabgänger als schon vor der Pandemie für eine Hoch- oder Fachhochschule entscheiden oder eine weiterführende Schule besuchen, obwohl sie genau die richtigen Bewerber für unsere Ausbildungsstellen wären. In der Finanzkrise sind die Ausbildungszahlen um 7 Prozent eingebrochen, das haben wir danach nicht wieder aufgeholt. Solch eine Situation darf sich nicht wiederholen, weil mit einem immer niedrigeren Sockel an Auszubildenden langfristig die Fachkräftesicherung für unsere Betriebe immer schwieriger wird. Hinzu kommt, dass die Betriebe immer stärker mit bürokratischen Auflagen und mit Kosten belastet werden. Das führt dazu, dass sich schon heute Klein- und Kleinstbetriebe aus der Ausbildung zurückziehen, weil sie es sich einfach nicht mehr leisten können.
Sie spielen auf die Mindestausbildungsvergütung an.
Wir müssen die duale Ausbildung insgesamt attraktiv halten, und da muss auch die Politik mithelfen. Für mich hat es zurzeit aber den Anschein, dass sie die berufliche Bildung immer noch nicht genug auf dem Schirm hat. Die Förderung ist zu zaghaft und zu wenig. Politik bringt den Ausbildungsbetrieben einfach zu wenig Unterstützung und Anerkennung entgegen.
Aber die Bundesregierung hat wegen der Corona-Krise doch eine Ausbildungsprämie beschlossen: Bis zu 3000 Euro bekommt ein stark betroffener Betrieb je Ausbildungsvertrag, wenn er so viel ausbildet wie vor der Krise oder sogar mehr.
Meine persönliche Einschätzung ist: Dieses Programm sieht gut aus, bewirkt aber leider fast nichts. Die Mittel werden nicht abgerufen, weil die Hürden zu hoch sind, und das kann es doch nicht sein. Deshalb muss hier aus meiner Sicht dringend nachjustiert werden. Das allein reicht aber nicht. Wir müssen uns um mehr kümmern als die reine Krisenbewältigung und schon jetzt die Weichen stellen, um die berufliche Bildung langfristig und nachhaltig zu stärken.
Was schlagen Sie vor?
Ausbildungsbetriebe im Handwerk tragen mittlerweile rund 60 Prozent der Kosten der überbetrieblichen Unterweisung, also der Kurse in den Bildungszentren der Handwerkskammern. Und das, obwohl ursprünglich vereinbart war, dass Bund, Länder und Betriebe jeweils ein Drittel zahlen. Aber Bund und Länder haben sich einfach einen schlanken Fuß gemacht. Wir müssen dahinkommen, dass ihre Zuschüsse schrittweise wieder an eine Drittelfinanzierung angepasst werden.
Und sonst?
Die Ausbildung sollte auch im Bereich der Sozialversicherung entlastet werden. Bei Studenten wird die Kranken- und Pflegeversicherung bis zum 25. Lebensjahr über das Ticket der Eltern abgewickelt, warum soll das in der beruflichen Ausbildung nicht auch so sein? Hier tragen Betriebe und Auszubildende den Beitrag von durchschnittlich 18,75 Prozent jeweils zur Hälfte. Für diesen Vorschlag habe ich von Betrieben und Arbeitnehmern viel Zuspruch erhalten, allerdings nicht aus dem Gewerkschaftslager, was ich überhaupt nicht verstehe: Ich kann nicht nachvollziehen, warum Azubis netto nicht mehr Geld im Portemonnaie haben sollen und gleichzeitig kleine Betriebe unterstützt werden.
Ist die Jugend vielleicht auch einfach zu anspruchsvoll? Bäcker, Fleischer oder Maurer wollen nur noch wenige werden.
Ich bin fest davon überzeugt, dass Handwerksberufe nach wie vor attraktiv sind, ja vielleicht sogar attraktiver als jemals zuvor. Alle Zukunftsaufgaben in diesem Land von der Energie- und Mobilitätswende, Smarthome und E-Health bis hin zum analogen und digitalen Infrastrukturausbau sind nur mit dem Handwerk umzusetzen. Jugendliche sollten nicht allzu viel auf die immer noch kursierenden Klischees geben, sondern Handwerk sehen, wie es heute ist: modern, innovativ und zukunftssicher.
Die Bezahlung variiert allerdings stark und ist teilweise nicht sehr hoch.
Für viele junge Menschen spielt das Geld eine Rolle, aber was nur die wenigsten wissen: Wenn man zum Beispiel eine Hochbaulehre macht, bekommt man die höchste Ausbildungsvergütung in Deutschland. Davon abgesehen sind auch die Entwicklungschancen sehr gut. Nach einer Ausbildung im Handwerk ist man zunächst Facharbeiter, kann dann die Meisterprüfung machen und sehr früh Unternehmer werden. Das ist so jung in kaum einem anderen Wirtschaftsbereich möglich. Ich selbst war schon mit 21 Jahren selbständig. Oder man baut auf der Ausbildung auf und wird in der Architektur oder im Ingenieurwesen tätig. Eine Meisterqualifikation ist heute im Deutschen Qualifikationsrahmen dem Bachelorstudium gleichgestellt, aber auch das ist kaum bekannt. Es gibt ganz augenscheinlich noch viel Aufklärungsbedarf.
Die Bundesagentur für Arbeit macht sich um das 2021 beginnende Ausbildungsjahr noch größere Sorgen als um das gerade gestartete, weil sich die Unternehmen offenbar schon jetzt zurückhalten. Teilen Sie diese Einschätzung?
Die Sorge ist berechtigt. Denn wir wissen ja nicht, wie sich die wirtschaftliche Lage entwickelt – nur dass sie im ersten Quartal nicht gut sein wird, ist aufgrund der Infektionszahlen schon klar. Von daher zögern die Betriebe noch, Ausbildungsplätze anzubieten, und die Jugendlichen fragen sich, ob sie mit einer dualen Ausbildung eine gute Grundlage haben, wenn es der Wirtschaft schlecht geht. Also ja, es richten sich schon bange Blicke auf das nächste Jahr, ob sich womöglich die Verunsicherung bei Betrieben und jungen Menschen in einem Weniger an beruflicher Ausbildung niederschlägt. Doch ich sehe keinen Grund, sich entmutigen zu lassen, ins Handwerk zu kommen. Im Gegenteil: Im Handwerk wird es immer eine Zukunft geben.